Feierlaune? Fehlanzeige. Glamour hielt sich beim Festival de Cannes in Grenzen.
Nicht Harmonie und Feierlaune, sondern Konflikt und Konfrontation bestimmte das Ende des 71. Festival de Cannes. Die italienische Schauspielerin und Regisseurin Asia Argento erklärte bei der Preisverleihung in einer flammenden Rede: “Mit 21 wurde ich hier in Cannes von Harvey Weinstein vergewaltigt. Dies war sein Jagdgebiet” und drohte schweigenden Mitwissern im Saal, die noch nicht zur Verantwortung gezogen wurden: “Ihr wisst, wer ihr seid. Auch wir wissen, wer ihr seid. Wir lassen nicht zu, dass ihr noch länger damit davonkommt.”
Dass seit Bestehen des Festivals nur 82 Regisseurinnen in den Wettbewerb eingeladen wurden, nahmen 82 weibliche Filmschaffende zum Anlass, auf dem Roten Teppich für mehr Gender-Gleichheit zu demonstrieren. Ironie der Geschichte: Ausgerechnet vor dem peinlichsten Wettbewerbsfilm, Eva Hussons “Les Filles du Soleil” über Peschmerga-Kämpferinnen gegen IS-Brigaden, ein vor Rührseligkeit und Kitsch strotzendes Machwerk, in dem Golshifteh Farahani immer wie frisch aus dem Beauty-Salon wirkte.
Frauen waren das Thema. Nicht nur durch die MeToo-Bewegung, sondern auch bei der Frage nach Partizipation im Männerclub an der Croisette. Es geht nur langsam voran. So gab es in den Jahren 1960 – 69 genau acht Wettbewerbsbeiträge von Frauen bei insgesamt 294, in den Jahren 2010 – 18 waren es 19 von insgesamt 184 Beiträgen.
Dass in diesem Jahr nur drei Wettbewerbsfilme von Frauen unter insgesamt 21 ausgewählt wurden, sorgte im Vorfeld für Kritik. Festivalchef Thierry Frémaux betonte aber, nie ein Programm unter den Gender-Faktor zu stellen. Die einzige Gewinnerin der Goldenen Palme ist bisher Jane Campion für “The Piano”, 2017 erhielt Sofia Coppola als zweite Frau den Preis für die Beste Regie. Frémaux unterzeichnet eine Charta der französischen Initiative “50/50 bis 2020”, in der sich das Festival zu mehr Transparenz bei der Auswahl und vor allem auf Genderparität im Programmausschuss und im Kuratorium bekennt.
Viele Auguren tippten bei der mit fünf Frauen und vier Männern besetzten Jury auf eine “Goldene Palme” für eine Frau, aber entgegen den Erwartungen gewann nicht ein “Quotenfilm”. Die Entscheidungen fielen besonnen aus. “Bloody hard” sei die Arbeit gewesen, verkündete Jury-Präsidentin Cate Blanchett. Die “Goldene Palme” für den Japaner Kore-Eda Hirokazu ist mehr als verdient.
In “Shoplifters” erzählt er mit großer Nähe, aber unaufdringlicher Kamera (Kondô Ryŭto) von einer ungewöhnlichen Familie, die eigentlich keine ist, sondern sich der Not geschuldet zusammen geschlossen hat. Kleine Betrüger, die sich mit Stehlen und Gelegenheitsjobs im reichen Japan über Wasser halten und ein wohl von seinen Eltern misshandeltes Mädchen aufnehmen. Die Frage heißt: Was macht Familie aus? Blutsverwandtschaft, gegenseitige Hilfe, Freundschaft? Ein berührender Film, der auch das Dunkle hinter dem Vordergründigen aufdeckt, und genau in das von Frémaux vorgestellte Konzept passt – soziale Spaltung, Außenseiter der Gesellschaft. Der rote Faden im Programm. Fast fühlte man sich bei all dem Elend der Welt wie auf der Berlinale mit ihrem Anspruch, ein politisches Festival zu sein.
Ganz oben in den Kritikercharts stand Nadine Labakis “Carphanaüm” (Kamera: Christopher Aoun), ein bewegendes und kompromissloses Sozialdrama mit Laienbesetzung über zwei Kinder in den Slums von Beirut. Der zwölfjährige Zein mit wissenden und erloschenen Augen, der wegen einer Gewalttat verurteilt wird und seine Schwester nicht vor einer Zwangsheirat retten kann, klagt im Gerichtssaal seine Eltern an, ihm das Leben geschenkt zu haben. Obgleich sie ihm nicht ein Minimum an Unterhalt, Zuneigung und Sicherheit garantieren können. Ein nicht lebenswertes Leben ohne Chance und ohne Hoffnung. Es hätte auch mehr sein können als der “Prix du Jury”.
Poetisch ging es bei Alice Rohrwacher und ihrem herzerwärmenden “Lazzaro Felice” zu, ex aecquo mit Nader Saeivar für Jafar Panahis “3 Faces” (Kamera: Amin Jafari) mit dem Drehbuchpreis ausgezeichnet. Mit feinem Humor und märchenhaften Elementen zeichnet sie – wie schon in “Land der Wunder” – gemeinsam mit Kamerafrau Hélène Louvart den Weg eines heiligen Narren. Der wächst in der Einöde eines Bauerhofs auf, wo die Arbeiter wie Sklaven gehalten werden. Der von einem jungen Adeligen faszinierte Lazarro stürzt in der Mitte des Films von einem Felsen, ein Wolf erweckt ihn wieder zum Leben und Jahrzehnte später trifft der in der harten Realität mäandernde junge Mann auf einstige im Gegensatz zu ihm gealterte Freunde und Bekannte in der Stadt. Ein zusammengeschweißtes Trüppchen, das sich gegen prekäre Verhältnissen stemmt. Rohrwacher spielt mit den Zeitebenen, und wenn am Ende der Wolf durch die Stadt stromert, weht ein Hauch Magie über die Leinwand.
Panahi, der immer noch nicht den Iran verlassen darf und trotz Berufsverbots einen Film nach dem anderen dreht, begibt sich mit der bekannten Schauspielerin Behnaz Jafari in den Norden des Landes nahe der türkischen Grenze. Die sucht ein Mädchen, das ihr ein Video mit Selbstmorddrohung geschickt hat, weil ihre Eltern sie nicht in Teheran Schauspiel studieren lassen. In drei Tagen prallen Stadt und Land aufeinander, Tradition und Moderne und ohne großes pädagogischen Zeigefinger erlebt man die Situation der Frauen, egal ob jung oder alt, die sich einem hierarchisch-männlichen System unterwerfen müssen.
Nachdem Spike Lee sich 1989 für “Do the Right Thing” um die “Goldene Palme” betrogen fühlte – Steven Soderbergh erhielt sie damals für “Sex, Lügen und Video” – und dem damaligen Jurypräsident Wim Wenders Baseballschläge im dunklen Park androhte, durfte er jetzt über den “Grand Prix” der Jury für “BlacKkKlansman” (Kamera: Chayse Irvin) jubeln. Eine unterhaltsame und wütende auf einer wahren Begebenheit basierende Komödie, in der ein farbiger Polizist einen weißen Kollegen in den Ku-Klux-Klan der 1970er Jahre einschleust. Dabei bezieht sich Lee nicht nur auf die Vergangenheit, sondern zieht mit dokumentarischen Aufnahmen den Bogen zu den Ereignissen in Charlottesville, Virginia, im August 2017. In der Pressekonferenz warnte er vor dem weltweiten Erstarken des Nationalismus und vor dem “Motherfucker” im Weißen Haus.
Zwei Wettbewerbsbeiträge beeindruckten in ihrer Schwarz-Weiß-Ästhetik. Der unter Hausarrest stehende russische Systemkritiker Kirill Serebrennikov blickt in “Leto” mit raffiniert kadrierten und auf 16 mm gedrehten Bildern von Kameramann Vladislav Opeliants zurück in die 1980er Jahre in Leningrad, in die Verwicklungen von zwei damals den Trend bestimmende Rockgruppen und ihre Rivalität und Solidarität. Eine Zeit, in der die Anfänge der Perestroika zu ahnen sind.