Berlinale 2019: Netflix-Ärger und China unter Zensurverdacht
von Redaktion,
Verdacht auf Zensur aus China und Ärger um eine Netflix-Produktion: Margret Köhler berichtet vom Wettbewerb der 69. Berlinale und wagt einen Ausblick in die Post-Kosslick-Ära.
(Bild: Li Tienan/Dongchun Films)
Für Proteste und einen offenen Brief von über 180 Filmkunstkinobetreibern sorgte die Vorführung von Isabel Coixets elegischem schwarz-weiß Drama „Elisa y Marcela“ (Kamera: Jennifer Cox), das nur auf Netflix zu sehen sein soll – obgleich Kosslick im Vorfeld versprach, er erfülle „ganz cool“ die Vorgaben, „nämlich, dass wir Filme im Wettbewerb programmieren, die fürs Kino gedacht und geeignet sind“. Die CICAE, der internationale Verband der Filmkunsttheater, monierte die Aufnahme ins Wettbewerbsprogramen ohne nachweisliche Zusicherung des Rechteinhabers Netflix für eine Kinoauswertung und forderte, ihn nur „außer Konkurrenz“ zu zeigen. Der Verband rief die großen Festivals auf, eine exklusive Erstaufführung in den Kinos zu garantieren. Weiteren Ärger bereitete die kurzfristige Annulierung des Wettbewerbsbeitrag „Yi Miao Zhong“ (One Second) von Zhang Yimou. Offiziell hieß es „technische Probleme bei der Postproduktion“, was wegen der in der Kulturrevolution angesiedelten Handlung schnell zu Gerüchten über staatliche Zensur führte. Der eigentliche Skandal wäre eine Premiere in Cannes. Da Thierry Frémaux sicherlich kein zensiertes Werk präsentieren würde, bliebe nur die böse Vermutung, dass man in letzter Minute Berlin einen Korb gegeben hat, um an der Croisette aufzutrumpfen.
Überraschend kritisch der chinesische Beitrag „Di Jiu Tian Chang“ (So Long, My Son) von Wang Xiaoshuiai, einer der besten Wettbewerbsfilme. Die Familientragödie umfasst drei Jahrzehnte beginnend in den 1980er Jahren. Ein Junge ertrinkt durch die Schuld eines anderen. Die Eltern des Toten versuchen irgendwie weiterzuleben, die des überlebenden Jungen erdrückt die Last der Verfehlung. Wie beide versuchen, ihre Existenz wieder in den Griff zu bekommen, entfaltet sich in drei nie langweiligen Stunden, wobei es manchmal schwierig ist, die Zeitebenen mit ihren Rückblenden richtig zuzuordnen. Subtil, aber deutlich prangert der Film die Ein-Kind-Politik an, rücksichtslose ideologische Einflussnahme, Entmündigung des Individuums, die Partei als Big Brother. Die Kamera des Koreaners Kim Hyung-seok richtet sich immer wieder auf Gesichter, die mehr aussagen als die wenigen Dialoge. Da ein “Goldener Bär“ wegen der Aufregung um Zhang Yimou politisch nicht opportun gewesen wäre, traf die Jury unter Juliette Binoche eine clevere Entscheidung: Der Silberne Bär für die Beste Darstellung ging an die Hauptdarsteller Yong Mei und Wang Jing-chun. Verdient haben sie ihn allemal.
Warum die Produzenten und nicht der Regisseur Nadav Lapid den „Goldenen Bären“ für das skurrile Werk „Synonymes“ kassierten, gab zu Spekulationen Anlass. Der 1975 in Tel Aviv geborene Lapid erzählt in Anlehnung an seine eigene Biografie von Entwurzelung und dem Willen, die israelische Identität durch die französische zu ersetzen. Was natürlich nicht so richtig klappt. Yoav, dargestellt von Tom Mercier, dem man einen Preis für seine furiose Performance gegönnt hätte, bewegt sich in einem orangenem Mantel durch ein oft feindliches Paris, ernährt sich von Nudeln mit Tomatensauce und weigert sich, hebräisch zu sprechen. Heimat in der Fremde zu finden, gleicht einer Sisyphusarbeit und kann hier auch tragikomisch sein. „Touch me not“, der Gewinner von 2018 brachte es auf gerade mal 5429 Zuschauer in der Kinoauswertung, man darf gespannt sein, ob „Synonymes“ ihn an der Kasse überbietet – sollte er denn einen Verleih finden.
Die Ära Kosslick ist nach 18 Jahren Geschichte. Das weltweit größte Publikumsfestival mit in diesem Jahr 335.000 verkauften Tickets steht vor einer Zäsur. Größer geht nicht mehr. Bald beginnen der künstlerische Leiter Carlo Chatrian, seit 2013 Festivalchef in Locarno, und Mariette Rissenbeek als geschäftsführende Leiterin mit der Vorbereitung für die nächste Ausgabe. Auf sie wartet einiges wie die notwendige Reduktion des ausgeuferten Programms, das inzwischen um die 400 Filme präsentiert, somit mehr als Cannes und Venedig zusammen, eine leichte Modifizierung des Konzepts der politischen Message, eine Eröffnungs- und Abschiedsgala auf internationalem Niveau ohne Flughafen- und Deutsche-Bahn-Witze oder Beschimpfung der Sponsoren als „Berlinale-Bitches“.
Welche Änderungen die neue italienisch-niederländische Doppelspitze plant, ist noch nicht bekannt. Es scheint aber sicher, dass Chatrian, der laut „Variety“ einen guten Draht zu den Streaming-Diensten Netflix und Amazon pflegt, den Kanadier Marc Peranson, vom Internationalen Filmfestival Vancouver und die beiden italienischen Auswahlkomitee-Mitglieder Lorenzo Esposito und Sergio Fant aus Locarno mit an die Spree nehmen will. Das könnte eine Dominanz des Autorenfilms einleiten. Warten wir’s ab: nach der Berlinale ist vor der Berlinale. [8197]