Im Interview: Filmemacher und Kameramann Victor Kossakovsky
Ferkel ohne Rosa
von Birgit Heidsiek,
Der russische Kameramann und Filmemacher Victor Kossakovsky begann seine Laufbahn mit 17 Jahren als Assistent in den Leningrader Dokumentarfilmstudios und studierte danach in Moskau Drehbuch und Regie. Er wurde mit poetischen, bildgewaltigen Dokumentarfilmen wie „¡Vivan las Antipodas!“ und „Aquarela“ bekannt. Sein schwarz-weißer Stummfilm „Gunda“ knüpft an die Anfänge des Kinos an. Wir interviewten ihn in Ausgabe 6.2020.
Stimmt es, dass Sie einen Ihrer frühen Filme mit der Kamera aus Ihrem Fenster in St. Petersburg aufgenommen haben?
Das hat sich zufällig so ergeben. Ich habe Anfang 2000 in Deutschland gelebt, weil ich dort eine Komödie drehen wollte. Zu dieser Zeit bin ich mehrere Male nach Russland gefahren und habe aus dem Fenster meines Apartments in St. Petersburg gefilmt. Als die Finanzierung für meinen Film nach einem Jahr noch immer nicht stand, hatte ich auf diese Weise gutes Filmmaterial für eine andere Komödie.
Was hat Sie gereizt, Kameramann zu werden?
Ich stand schon als Kind gerne hinter der Kamera. Im Alter von sechs, sieben Jahren habe ich meine ganze Zeit damit verbracht, Schmetterlinge, Blumen, Fische, Vögel und Landschaften mit einem alten Fotoapparat aufzunehmen, den mein Onkel mir geschenkt hatte. Als ich zwölf Jahre alt war, habe ich in den Sommerferien in einer Fabrik gejobbt, in der Motorboote hergestellt wurden. Von diesem Lohn habe ich mir ein 500-mm-Objektiv für meinen Fotoapparat geleistet.
Haben Sie auch von einer Karriere als Regisseur geträumt?
Ich hatte nie Interesse, Regie zu führen. Für mich zählt im Kino die Kamera. Eine Geschichte muss im Kino gezeigt werden, sie darf nicht erzählt werden. Wenn jemand eine Geschichte zu erzählen hat, soll er ein Buch schreiben. Das Kino muss uns etwas zeigen.
Welche Bedeutung besitzt das Kino für Sie?
In Russland sehen wir uns Filme auf der großen Kinoleinwand an, nicht auf Fernseh- und Computermonitoren. In jeder Filmschule gibt es auch eine Kinoprojektion. Als Student habe ich mir jeden Tag vier, fünf Filme auf der großen Leinwand angeschaut. Das ist ein Privileg der Ausbildung in Russland.
Wie sind Sie in die Filmbranche gekommen?
Ich habe als Kamera-Assistent angefangen und für die besten russischen Kameramänner gearbeitet. Bei meinem ersten Film „The Belovs“ habe ich durch Zufall die Regie übernommen. Der Protagonist wollte nicht, dass beim Dreh weitere Personen dabei sind. Ich habe ihn gefilmt und das Rohmaterial den Regisseuren übergeben, die vorschlugen, dass ich auch den Schnitt selbst vornehme, da ich schon als Cutter gearbeitet hatte. Ich war extrem unsicher und suchte Hilfe bei Georgy Ivanovich Rerberg, dem Kameramann von Andrei Tarkowskis Film „Der Spiegel“. Ihm gefielen meine Filmaufnahmen.
Führen Sie bei Ihren Filmen stets selbst die Kamera?
Durch meine Arbeit mit Rerberg habe ich sehr hohe Ansprüche entwickelt und kaum jemanden gefunden, der ihm das Wasser reichen konnte. Deshalb habe ich bei den meisten meiner Filme selbst die Kamera übernommen. „Gunda“ habe ich zusammen mit dem norwegischen Kameramann Egil Hâskjold Larsen gedreht, auf den ich durch seine brillanten Steadicam-Einstellungen in dem Film „69“ aufmerksam geworden bin. Diese Doku begleitet Flüchtlingsfamilien über 69 Tage auf ihrer Reise von Sizilien nach Schweden. Er hat die ganze Zeit über ein Mädchen mit der Steadicam begleitet und das sehr professionell gefilmt. Die Bilder gehen in die Tiefe, denn er weiß, wie er Bewegungen einfangen muss und wie groß der Abstand zwischen Protagonist und Kamera sein darf. Bei der Kameraarbeit ist es das Wichtigste, den richtigen Abstand zwischen Protagonist und Kamera zu finden. Bei „Gunda“ war es erforderlich, die Tiere aus nächster Nähe aufzunehmen und ihren Bewegungen zu folgen. Dafür brauchte ich einen guten Steadicam-Operator.
Wie sind Sie an dieses Filmprojekt herangegangen?
Alles stand und fiel mit unserer Hauptdarstellerin. Mitunter kann es Monate dauern, die richtigen Protagonisten zu finden. In diesem Fall war alles einfach, denn bei Gunda wusste ich sofort, dass sie die Richtige ist. Ich habe sie auf dem Bauernhof in Norwegen entdeckt, den ich als Erstes besucht hatte. Gunda war das erste Schwein, dass ich dort entdeckte. Ihr Blick war so ausdrucksvoll, sie sprach förmlich mit den Augen. Als sie auf mich zu kam, sagte ich zu meiner Produzentin Anita Rehoff Larsen: „Wir haben unsere Meryl Streep gefunden.“
Wie sah der Kameraaufbau aus?
Ich habe mir ihren Stall angeschaut und genau so einen Stall mit herausnehmbaren Brettern errichtet, in dem wir Schienen verlegten, um die Kamera über 360 Grad bewegen zu können. Wir waren bei den Filmaufnahmen draußen und haben die Kamera von dort aus gesteuert. Auf diese Weise haben wir Gunda nicht gestört, denn in ihrem Stall befand sich nur die Kameralinse. Sie hat wirklich sehr gut mitgespielt. Selbst bei der Geburt ihrer Ferkel konnten wir hautnah dabei sein. Sie war eine traumhafte Hauptdarstellerin.
Welches Equipment haben Sie dafür verwendet?
Wir haben mit einer ARRI ALEXA Mini gedreht und ein Optimo Zoom 24-290 mm von Angénieux gewählt. Die ALEXA Mini ist für Dokumentarfilme perfekt, da sie klein und sehr schnell ist. Um Gunda nicht zu stören, haben wir nur sehr wenig Licht gesetzt, das kaum sichtbar war. Bei diesem Dreh haben wir uns sehr einfacher Mittel bedient und im Stall eine Disco-Kugel aufgehängt, die angestrahlt wurde, um die vielen dunklen Ecken zu beleuchten. Das hatte den Effekt, dass wir überall kleine Lichtpunkte erhielten. Normalerweise dreht sich eine Disco-Kugel, aber wenn sie statisch eingesetzt wird, erzeugt sie überall Licht. Das war für uns die optimale Lösung, weil wir nicht absehen konnten, wo die kleinen Ferkel hinkrabbeln. Zudem wirkte es sehr natürlich, da sich in der Decke des Stalls kleine Löcher befinden, durch die Licht nach innen fällt.
„Gunda“ unterscheidet sich stark von den herkömmlichen Tierfilmen. Wie sah Ihr Ansatz dabei aus?
In den meisten Tierfilmen erklären uns Menschen etwas über die Tiere, so dass wir den Tieren nicht unsere volle Aufmerksamkeit schenken. Ich wollte die Tiere weder beschützen, vermenschlichen noch zeigen, wie sie geschlachtet werden. Stattdessen habe ich mich entschlossen, die Kamera sprechen zu lassen. Das Kino kann etwas vor Augen führen, was wir normalerweise nicht entdecken und uns einen emotionalen Zugang zu einem Thema eröffnen. Ich habe mich entschieden, zu den Anfängen des Kinos zurückzukehren. Ich wollte zeigen, wie Tiere kommunizieren. Wenn Sie genau hinschauen, sehen Sie, dass Gunda mit uns spricht. Sie kommt sogar auf die Kamera zu. Es war uns schon am ersten Drehtag klar, dass sie sich für die Kamera interessieren und dort hineinschauen wird. Das wollten wir gerne erreichen und genau das ist passiert.
Warum haben Sie sich entschieden, in Schwarz-Weiß zu drehen?
Die Entscheidung, in Schwarz-Weiß zu filmen, habe ich zum einen getroffen, weil mich das zu den Anfängen des Kinos zurückführt. Zum anderen war es unter diesen Umständen passender, weil Farbe sehr dominierend sein kann. Wenn wir Blut in Farbe sehen, wirkt das zu realistisch und lenkt uns nur ab. Da satte Farben unsere Aufmerksamkeit auf andere Dinge lenken, wollte ich keine niedlichen rosa Ferkel zeigen – obwohl sie sehr süß waren, das können Sie mir glauben. Ich wollte den Zuschauer nicht dazu verleiten, sondern habe sie in Schwarz-Weiß aufgenommen, damit wir sie auf eine andere Art und Weise wahrnehmen.
Am Ende des Films sucht die Sau nach ihren Ferkeln, die plötzlich verschwunden sind. Wie oft kommt das vor?
Das geschieht zweimal im Jahr, denn die Ferkel leben in der Regel nur sechs Monate. Danach werden sie geschlachtet. Im Vergleich zu anderen Schweinen lebt Gunda in priviligierten Verhältnissen auf einem sehr gut geführten Hof. Sie lebt dort in Freiheit. Auf anderen Bauernhöfen sind die Schweine ihr ganzes Leben lang eng eingepfercht.
Hat die Massentierhaltung dazu geführt, dass Tiere nicht mehr als Lebewesen wahrgenommen werden?
Ich hoffe, dass den Menschen das auffällt. Wir sind sieben Milliarden Menschen auf der Erde und halten eine Milliarde Schweine in engen Käfigen. Hinzu kommen eineinhalb Milliarden Kühe, die unter horrorhaften Bedingungen leben und 50 Milliarden Hühner, die ihr ganzes Leben in Käfigen verbringen. Wir quälen und töten diese Tiere. Das muss uns bewusst werden, damit wir dem ein Ende setzen.
Versuchen Sie, den Menschen die Augen dafür zu öffnen?
Dokumentarfilme sind ein großartiges Mittel, um Realitäten zu zeigen, die wir nicht wahrnehmen und sehen wollen oder nicht sehen sollen, damit wir nicht darüber nachdenken. Durch meinen Film sollen die Menschen diese Tiere mit anderen Augen sehen, so dass sie realisieren, dass dies Wesen mit Gefühlen sind, die über ein Bewusstsein verfügen. Für mich ist „Gunda“ der persönlichste und zugleich wichtigste Film, den ich als Filmemacher und als Mensch gemacht habe.
„Gunda“ steht in einem krassen Kontrast zu Ihrem vorherigen Film „Aquarela“. Drehen Sie gerne unterschiedliche Filme?
Es gefällt mir, jedes Mal einen ganz anderen Film zu drehen, der einen völlig anderen Stil besitzt. Ich brauche diese Herausforderung. Ich habe keine Lust, mich zu wiederholen. Wenn ich das tun müsste, würde ich lieber aufhören, Filme zu machen.
Ich habe „Gunda“ zeitgleich mit „Aquarela“ begonnen, den ich mit 96 fps gedreht habe. Ich war mir nicht sicher, ob es einen Markt für einen Film gibt, der mit 96 Bildern pro Sekunde gedreht ist. Bislang ist das nicht der Fall, aber ich glaube nicht, dass ich zu 24 Bildern pro Sekunde zurückgehen werde, denn mit High Frame Rates zu drehen, ist eine ganz andere Dimension. Ich verstehe nicht, wieso Filmemacher und vor allem Kameraleute das nicht begreifen. Es gibt heutzutage keinen Grund, mit 24 Bildern in der Sekunde zu drehen, weil wir längst nicht mehr mit großen schweren Filmrollen arbeiten, welche die Drehzeit limitieren. Bei einer Bildrate von 96 fps können wir wesentlich mehr sehen und selbst bei einer schnellen Bewegung noch den Gesichtsausdruck erkennen, der sonst verwischt. Das wurde mir klar, als ich einen Kurzfilm über eine Balletttänzerin gedreht habe, die beim Üben von Pirouetten sehr ausdrucksstark wirkte. Beim Dreh mit 24 Bildern pro Sekunde war ihr Gesichtsaudruck vollkommen verwischt. Deshalb habe ich Aufnahmen mit 48 fps und 96 fps getestet. Bei der Frame Rate mit 96 Bildern konnte ich ihren Gesichtsausdruck erkennen. Um die Filme in der richtigen Geschwindigkeit abspielen zu können, benötigen wir allerdings auch eine Projektion mit 96 fps. Ich verstehe nicht, warum das nicht passiert. Es sind die Kameramänner, die das Kino revolutionieren, nicht die Filmemacher. Nach der Einführung von Ton, Farbe, Stereo-Ton, Dolby, Atmos und digitalem Dreh wird es Zeit, die 24 Bilder pro Sekunde abzulösen.
Begreifen Sie die Digitalisierung als eine Chance?
Natürlich, aber das ist nicht vergleichbar, da viele Dinge beim Filmdreh gar nicht möglich waren. Bei „Gunda“ wussten wir nicht, wann die Ferkel geboren werden. Für derartige Situationen ist das Pre-Recording-System in der Kamera großartig, denn wir mussten die Kamera nicht stundenlang laufen lassen, um die ersten Sekunden der Geburt filmen zu können. Durch das Pre-Recording haben wir die 30 Sekunden zuvor mit aufgenommen. Das ist ein fantastisches Werkzeug.
Wie sah das Drehverhältnis bei „Gunda“ aus?
Wir haben nicht so viel gedreht. Das Drehverhältnis lag bei 1:4 – wie früher bei einem klassischen Filmdreh auf 35 mm. Wir haben insgesamt etwa sechs Stunden Material aufgenommen.
Was für einen Film planen Sie als Nächstes?
Mein nächstes Projekt ist „Architecton“ und handelt davon, wie wir die Stadt der Zukunft bauen. Das ist etwas, was wir noch nicht gesehen haben und die Kamera wird ziemlich revolutionär sein. Der Film wird eine Komödie, aber in gewisser Weise auch eine sehr überraschende Utopie. [12612]