Die Berliner Filmschaffenden Gayatri Parameswaran und Felix Gaedtke haben das Medium VR für sich entdeckt. Anstelle konventioneller Reportagen und Dokus produzieren sie immersive VR-Installationen zu sozialen und politischen Themen. Mit ihrem aktuellen Projekt Kusunda machen sie auf das Verschwinden von Sprachen und Kulturen aufmerksam. Gunter Becker hat mit ihnen für unser Heft 5.2021 gesprochen.
VR-Installationen treten immer häufiger an die Seite dokumentarischer Formate. 2018 machte etwa der Berliner Filmemacher Dani Levy mit seinem VR-360-Grad-Projekt „Faith, Love, Hope, Fear“ in vier immersiven Kurzstücken den schwierigen Alltag im geteilten Jerusalem lebendig. Auch die beiden Berliner Filmschaffenden Gayatri Parames-waran und Felix Gaedtke nutzen VR-Technologie für dokumentarisches Arbeiten. Mit „Home After War hatten sie zuletzt eine aufwendige VR-Installation zum Thema Sprengfallen realisiert, die irakische Geflüchtete bei ihrer Rückkehr nach der Vertreibung des IS aus Falludscha in ihren verminten Häusern vorfinden.
Mit ihrer aktuellen Arbeit führen Gaedtke und Parameswaran nach Nepal zur indigenen Minderheit der Kusunda. Deren Kultur und Sprache droht zu verschwinden: Nur noch wenige Dutzend Menschen sprechen Kusunda aktiv und deren nomadische Kultur ist bereits so gut wie untergegangen. Die Arbeit wurde zum Tribeca-Filmfestival nach New York eingeladen und wird dort im Juni uraufgeführt. Doch bereits ihre Entstehungsgeschichte ist filmreif.
Als Parameswaran und Gaedtke 2012 nach Nepal reisten, wurden sie von einem Linguisten auf die Kusunda aufmerksam gemacht. „Kusunda ist eine ,language isolate‘ ohne irgendwelche Verwandtschaften zu anderen Sprachen“, berichtet Felix Gaedtke. Weltweit gibt es noch etwa 135 dieser Sprachen. Kusunda selbst wird nur noch von etwa 80 bis 90 Menschen gesprochen.
Nach diesem ersten Kontakt mit den Kusunda beschlossen die beiden, ein Projekt zu realisieren. Jahrelang suchten sie Finanziers und Technikpartner, bis sie Anfang 2019 endlich drehfertig waren. Vor Ort entwickelten sie mit dem Kusunda-Schamanen Lil Bahadur und seiner Enkelin Henna als Darstellern die Geschichte. Die Gespräche mit den beiden stehen im Mittelpunkt der Installation.
Quasi-Volumetrie
Die Interviewaufnahmen wurden mithilfe eines Tiefensensors an der Kamera als quasi-volumetrische Aufnahmen realisiert. Denn das übliche Setup mit bis zu 70 Kameras für volumetrische Aufnahmen war zu aufwendig für den Dreh. „Wir hatten das Angebot, die Interviews in einem der besten volumetrischen Studios in Kalifornien zu drehen. Aber unsere Darsteller:innen waren in ihrem Leben noch nicht einmal bis nach Kathmandu ge- kommen. Eine Reise nach USA hätte sie komplett aus ihren Zusammenhängen gerissen“, berichtet Felix Gaedtke.
So verband er seine Sony A7 R3 mit einem Kinect-Tiefensensor, der eigentlich aus dem Gaming-Bereich stammt. Dazu setzte er auf einem sehr leistungsfähigen Computer die Depthkit-Software ein, um so die Tiefeninformationen zu gewinnen und diese mit den Farbinformationen aus der Kamera zu verbinden. „Unser Setup war für die Stromversorgung des kleinen Ortes zu aufwendig, so dass mehrmals alle Sicherungen herausflogen. Irgendwann war der örtliche Elektroinstallateur dann Mitglied unserer Crew”, erinnert sich Gaedtke grinsend. Und er erinnert sich auch daran, dass das System immer wieder auf die Linse und auf die Distanz kalibriert werden musste. „Auch mussten wir die Interviews innen drehen und ausleuchten, weil wir merkten, dass das Sonnenlicht außen dem Tiefensensor nicht gut tat. Man muss bei der Arbeit mit dem Tiefensensor auch Abstriche bei der Bildqualität machen“, ergänzt Gaedtke.
In einem zweiten Arbeitsgang musste die Umgebung, also Haus, Dorf und Landschaft gecaptured werden. Dabei arbeiteten Parameswaran und Gaedtke wie bereits bei den Räumen in ihrer Irak-Produktion mit Fotogrammetrie. Es wurden also jede Menge Fotos geschossen, um die Plätze später in 3D umsetzen zu können. Dabei kamen Weitwinkelobjektive und eine Drohne zum Einsatz. „Die extremen Brennweiten nutzt man, damit sich möglichst viele Informationen auf den Fotos überschneiden“, erklärt Gaedtke. Besondere Probleme machten die Aufnahmen eines Raums, der durch ein Herdfeuer verraucht war. „Damit kamen die Programme nicht klar. In der Postproduktion hatten wir da mehr Artefakte als in einem anderen Raum ohne Rauch“, sagt Gaedtke.
Motion Capture in Zürich
In einem dritten Arbeitsgang entstanden Animationen, die das ursprüngliche Leben der Kusunda im Urwald wiederaufleben lassen. Hier arbeitete das Team erstmals mit Motion Capture. Die Kunsthochschule Zürich stellte ihnen dafür im Rahmen eines Stipendiums ihr Motion Capture Studio zur Verfügung. „Die spezielle Herausforderung hier war, dass die Kusunda durchschnittlich recht klein sind, wir in Zürich aber nur recht große Schauspielerinnen und Schauspieler finden konnten,” berichtet Gaedtke und fügt an, „den Unterschied zwischen diesen natürlichen Bewegungsabläufen und nachträglich animierten Figuren fanden wir aber wirklich frappant.“
Für den Motion Capture-Part der Produktion musste Art Director Moritz Mayerhofer die Wald-Szenen in VR malen. Als Vorlagen konnte er lediglich auf einige wenige Fotos von Anthropologen zurückgreifen, die zeigten, wie sich die Kusunda früher gekleidet hatten und wie sie gejagt hatten. Weitere Informationen für diese Szenen lieferte Protagonist Lil, der selbst noch eine Zeit lang im Wald gelebt hatte. Während des etwa 25-minütigen Durchlaufs der VR-Installation erlebt man als Nutzer mit der Datenbrille Szenen der Familiengeschichte von Lil und Henna, trifft Kusunda im Urwald und kann sich selbst durch kurze interaktiven Übungen in der Sprache Kusunda versuchen. [14516]