Als Chefkameramann beim Bayrischen Rundfunk in München ist Hans Fischer auch für die Ausbildung von Nachwuchs-Kameraleuten verantwortlich. Was kann er für sie tun und wie sieht er ihre Zukunft?
Wie begleiten und wie lenken Sie Nachwuchskräfte auf deren Weg zum Erfolg?
Lenken kann man etwas Technisches. Lenken kann man zum Beispiel ein Fahrzeug, in dem man sitzt, und dem man die Richtung vorgeben kann. Einem Lernenden kann ich den Weg zeigen, gehen muss er ihn aber selber. Mein Beispiel hierfür ist eine junge Regisseurin, die sich mit Sicherheit nicht bewusst war, auf was sie sich eingelassen hat, als sie von Berlin nach München ging. In so einer Situation hat man ein bestimmtes Bild von München im Kopf. Ich habe ihr dann auch genau beschreiben können, wie ihr Bild aussah, bevor sie sich für diesen Standortwechsel entschied. Sie hat mir dann bestätigt: Ja genau, das ist das Bild, mit dem ich von Berlin weggegangen bin. Wir sind dann zusammen an einen Ort gegangen, den die ganze Welt kennt: die Theresienwiese. Dort habe ich habe sie gefragt: „Was siehst du hier alles?“ Zunächst kam die Antwort: „Ja, hier ist ja nichts!“ Ich daraufhin: „Schau dir einmal die ganzen Kästen an, die hier herumstehen!“ Sie: „Ja, stimmt! Das sind Stromverteilerkästen.“ Ich: „Und wozu werden die gebraucht?“
Man sollte hinter dem, was man sieht, auch die Geschichten erkennen und erzählen wollen, das heißt aber vorab, dass man sich selber zuhören können muss. Deshalb war es auch so notwendig, ihr auf den Kopf zuzusagen, wie die Bilder aussahen, die sie aus Berlin mitgebracht hatte. Und dann erst ist da die leere Fläche, auf der das Neue aufbaut. Auf diese Weise lernt man sehen. Das geht bis dahin, dass ich ihr sagte: „Stell dir das Bild von oben vor! Diese ganzen Betriebsflächen, diese geteerten Flächen sehen von oben aus wie ein Schachbrett. Dies hat alles seinen Sinn. In diesem Schachbrett stehen nun diese Verteilerkästen, und dann sind da noch wahnsinnig viele Hydranten, weil viel Wasser gebraucht wird.“ So haben wir das Ganze aufgelöst und unter einem bestimmten Aspekt erfasst. Man sollte sich Gedanken machen, wo man sich befindet, und man sollte auch seine Perspektive permanent verändern, um neu sehen zu können. Sie hat mir dann später eine lange Nachricht gesendet und mit den Worten unterschrieben: „Sehende in Ausbildung“.
Wie stoßen Sie den Perspektivwechsel an? Indem ich darum bitte, einfach nur einmal einen Schritt nach rechts oder nach links zu vollziehen. Selbst dieser schlichte Ortwechsel ändert meine Perspektive, oder man bekommt einen anderen Blick, so dass man die Geschichte intensiver erzählen kann. Auf der Theresienwiese gab es auch einen knallroten Abfallcontainer. Der stand vollkommen frei gegen eine Kirche da. Ich empfahl eine Zentralperspektive. „Und die Kirche schneiden wir dann ab! So und jetzt gehen wir einmal um diesen Müllcontainer herum!“ Ortswechsel! Andere Perspektive! Jetzt aber steht dieser Container wie ein Koloss unter diesen Verteilerkästen, aber eben immer wieder nur als Fläche.
Eigentlich ist der Container ja ein dreidimensionaler Körper. Warum betonen Sie „Fläche“ so stark?
Weil wir unsere Bilder immer nur auf einer Fläche gestalten. Das ist übrigens ein aktuell ganz großes Problem für unsere angehenden Kameraleute: Für welche Flächen gestalten wir denn?
Zum einen werden die Fernsehbildschirme immer größer und auf der anderen Seite werden Filme immer öfters auf Smartphones angesehen.
Ja – und ist es Fernsehen oder ist es Kino? Was betrachte ich dann auf dieser Fläche?
Bildgestaltung ist also im ersten Schritt eine Leistung der Wahrnehmung und dann eine kognitive, wenn es um das Erkennen einer Geschichte geht. Welche Rolle spielt technisches Know-how? Ich kann mir auf meinen Speicher alles Mögliche draufla- den. Wenn mein Bauch die Aufgabe nicht versteht, dann kann da oben gespeichert sein, was auch immer, es kommt trotzdem kein gutes Bild dabei heraus. Ganz wichtig ist die Tangente zwischen deinem Bauch und deinem Gehirn. Natürlich musst du wissen, welche technischen Möglichkeiten es gibt, welches Besteck ich verwenden muss, um das zu verarbeiten, was ich spüre. Es darf nicht dazu kommen, dass die Geschichte auf vorhandenes Equipment reduziert wird. Sonst gibt es die Juwelen nicht, die aus diesem Bilder-Tsunami heraustreten, indem sie zuerst die Geschichte sehen und ausgestalten und dann erst in die technische Welt wechseln. Dann entstehen solche grandiosen Filme wie „Capernaum“, „Polizeiruf: Sabine“ oder „Hindafing“. Hier spüre ich, dass gegenwärtig beim Nachwuchs eine große Veränderung vonstatten geht.
Können Sie diese Veränderung noch etwas näher beschreiben?
Ich wage zu behaupten, dass man erkennen kann, ob ein Film aus Ludwigsburg, aus München oder aus einer ande- ren Nachwuchsschmiede kommt. Dort werden Bilder-Sprachen gelehrt. Jede Schule lehrt die ihre. Hinzu kommt die Internationalität, wie ich es mir immer gewünscht habe. Es ist eine Sache, eine Sprache zu lernen, und einen andere, diese Sprache nicht nur einfach zu übernehmen, sondern auch weiterzuentwickeln. Da sehe ich unterschiedliche Farbigkeit, da sehe ich unterschiedliche Schärfen, da gibt es unterschiedliche Töne und einen unterschiedlichen Umgang mit Nähe und Distanz. [15317]