Wir stellen die Preisträger des 34. Deutschen Kamerapreises vor (5)
Sehnsucht nach dem Experiment
von Uwe Agnes,
Wir führen unsere Reihe mit den Preisträgerinnen und Preisträgern beim 34. Deutschen Kamerapreis fort mit Patrick Orth, der den Preis in der Kategorie Fiction Kino für seine Kamera bei „Im toten Winkel“ erhielt.
Patrick Orth studierte an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg visuelle Kommunikation. Mit dem Abschlussfilm „Love“ gewann er 2000 den Deutschen Filmpreis in Gold. Seit Anfang der 2000er Jahre machte er sich in Filmen wichtiger Regisseure des deutschen Kinos einen Namen. Für Ulrich Köhler filmte er den Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „Bungalow“, den 2011 mit dem Silbernen Bären ausgezeichneten Film „Schlafkrankheit“ sowie „In My Room“, der 2018 in Cannes lief. Für Stefan Krohmer drehte er „Sommer 04“, er war am Kompilationsfilm „Deutschland 09“ beteiligt und stand für Thomas Arslans Berlinale-Film „Gold“ hinter der Kamera. Mit dem Videokünstler Omer Fast machte er „Continuity“ und mit Maren Ade den vielfach ausgezeichneten Cannes-Beitrag „Toni Erdmann“. Patrick Orth ist Dozent an der dffb, der Hamburg Media School und Professor für Kinematografie an der KHM Köln.
Herzlichen Glückwunsch zum Deutschen Kamerapreis in der Kategorie Fiktion Kino. Was hat der Preis für dich bedeutet? Ich bin davon überrascht worden. Als der Anruf kam, wusste ich erst einmal gar nicht, wofür der sein könnte. Wir hatten „Im toten Winkel“ ja schon 2022 gedreht und deshalb hatte ich den Film gar nicht mehr so auf dem Schirm. Einen Moment lang dachte ich, vielleicht ist es für das Lebenswerk, aber dafür bin ich wohl doch ein bisschen zu jung! Es war aber eine sehr schöne Überraschung. Ich weiß auch gar nicht, wer den Film eingereicht hat, denn selbst bekomme ich das nie hin, die Filme, die ich mache, auch einzureichen.
Wie bist du an dieses Projekt geraten? Ich kenne die Regisseurin Ayse Polat schon lange und habe zwei schöne Kinofilme mit ihr gedreht, „En Garde“ 2003 und „Luks Glück“ 2011. Durch diese guten Erfahrungen war für mich klar, dass ich auch zehn Jahre später wieder mit Ayse arbeiten will. Das Drehbuch, das sie mir gezeigt hat, war erzählerisch und filmisch sehr komplex – darum waren wir auch schon lange vor den Dreharbeiten im Kontakt, um uns auszutauschen.
Das Projekt ist ein multiperspektivisches Stück. Ein Filmteam aus Deutschland fährt in die Türkei, um dort einen Bericht über verschwundene Kurden und deren Mütter zu machen. Während das Dokumentar-Team filmt, wird es von einer Art Geheimpolizei observiert und ein Polizist filmt ständig alles, auch seine Kollegen.
Die meiste Arbeit im Vorfeld war, sich bilddramaturgisch zu überlegen, welche Szene wir in welcher Perspektive erzählen wollen und wann eine doppelte Perspektive Sinn ergibt. Diese Arbeit war sehr aufwendig und wir haben bestimmt schon ein Jahr zuvor immer wieder daran gearbeitet und unsere Listen gemacht. Am Ende waren acht verschiedene Kameras im Einsatz, nicht gleichzeitig, sondern für die jeweiligen Erzähl-Ebenen.
Für diese acht Kameras warst du dann verantwortlich. Ja, die habe ich alle gemacht und dafür musste ich auch oft in die Figuren schlüpfen. Das Interessante daran war, dass all das verschachtelte Erzählerische, was sich im Vorfeld so kompliziert dargestellt hatte, sich im Lauf der Dreharbeiten immer selbstverständlicher angefühlt hat – im fertigen Film dann sowieso.
Auch das Drehen mit dem unterschiedlichen Equipment ist schnell zur Routine geworden. Als A-Kamera hatten wir eine ARRI ALEXA Mini mit Cooke-S4-Objektiven in 1:1,85 und für die Handys eine Blackmagic Pocket Cinema 6K mit Canon Zoom oder eine alpha 7s MkIII mit Sony-Zoom. Bei der Kamera des Drehteams im Film war wichtig, dass sie einen kleineren Sensor und die entsprechend große Schärfentiefe hat. Hier haben wir eine EB-Sony mit Standard-Zoomoptik eingesetzt. Für die Überwachungskameras haben wir uns für die Blackmagic mit Milvus Primes entschieden.
Das war natürlich für den Assistenten Chris Kunze sehr herausfordernd, der ständig die Kameras umbauen musste. Eigentlich hätten wir zwei Assistententeams gebraucht, um den Umbau immer schnell zu schaffen, denn man muss ja doch mit Funkschärfe und anderen Anbauten einiges wechseln, so dass die Kameras teilweise nicht so schnell einsatzbereit waren, wie wir uns das gewünscht haben. Aber auch das wurde irgendwann zur Routine, so sehr, dass es nach dem Film beim nächsten Projekt ganz merkwürdig war, jede Szene aus nur einer Perspektive zu drehen!
Wie anstrengend war es, sich gestalterisch auf diese acht verschiedenen Ebenen einzulassen? Es gibt im Film zum Beispiel sechs verschiedene Handyperspektiven und wir haben uns überlegt, welche Figur welches Handymodell hat und was das für das Bild bedeutet. Im Nachhinein würde ich sagen, dass diese Gedanken ein bisschen übertrieben waren, weil die Dinge, über die wir Kameraleute oft sprechen, wie Kontrastverhältnis oder Schärfentiefe, sich dann im Film doch nicht so vermitteln, das tritt im Kino dann doch hinter den dramaturgischen Aspekten zurück. Wir hätten es uns einfacher machen können und zum Beispiel für jede Handyperspektive das gleiche Aufnahme-Setup benutzen und die Differenzierung dann erst in der Nachbearbeitung vornehmen können.
Der Unterschied im Bildeindruck von verschiedenen Handymodellen ist ja wahrscheinlich wirklich marginal. Absolut, trotzdem macht man sich vorher Gedanken darüber. Aber es ging ja auch um die Kameraführung. Ein vierjähriges Kind, ein Geheimagent, dessen Frau, sein Kollege – alle drehen unterschiedlich. Wer dreht hochkant, wer im Querformat? Das muss man sich ja vorher alles überlegen. Schließlich gibt es noch eine ominöse Stalkerperspektive, bei der im ganzen Film nie wirklich geklärt wird, wer das ist. Diese Perspektive haben wir in der Nachbearbeitung besonders deutlich abgesetzt und ein bisschen verzerrt, so dass sie einen singulären eigenen Stil hatte. Die übrigen Handy-Aufnahmen haben sich eher durch das Bildformat unterschieden. Im privaten Bereich wird ja eigentlich nur noch hochkant gefilmt, was ich gar nicht verstehe.
Was war abgesehen von den Perspektiven bei diesem Projekt eine Herausforderung für dich als DoP? Wir haben in der Türkei gedreht und ich hatte aus Deutschland nur den Oberbeleuchter Christoph Dehmel und meinen Assistenten Chris Kunze dabei. Der komplette Rest des Teams war aus der Türkei, die meisten aus Istanbul, die Beleuchter-Crew, die Kamerabühne und die Ausstattung. Ich finde es interessant und spannend, wenn man von Null auf Hundert zusammenkommen muss, egal, wo auf der Welt du drehst. Man muss schnell eine Arbeitsebene finden, die nicht nur hierarchisch ist, denn das mag ich nicht. Es war zum Beispiel eine tolle Erfahrung, mit dem türkischen Szenenbild gemeinsam in den kreativen Prozess zu kommen.
Das ist natürlich bei einem einheimischen Dreh einfacher, wenn es keine Sprachbarriere gibt. Nicht jeder spricht gut Englisch oder es muss teilweise übersetzt werden und das macht es schwieriger. Wir haben versucht, mit der Regie-Abteilung, mit den Assistenzen, mit dem Script in einen Flow zu kommen, der ein kreatives Miteinander ermöglicht. Das ist einerseits eine Herausforderung, andererseits macht es auch Spaß und geht, finde ich, immer überraschend schnell. Denn wir alle machen Filme in unseren verschiedenen Ländern und Kontinenten, tun aber dabei letztendlich sehr Ähnliches und haben auch ähnliche Probleme. Diese Erfahrung finde ich bei Auslanddrehs immer etwas Besonderes.
Mein Oberbeleuchter Christoph Dehmel hatte dann unglücklicherweise auch zwei Wochen Corona, so dass ich in dieser Zeit alleine mit dem türkischen Lichtteam zurechtkommen musste. Das war dann schon herausfordernd, weil ich natürlich deutlich mehr Aufmerksamkeit auf das Licht und die Lichtlogistik richten musste. Mit Christoph habe ich schon einige Projekte gedreht, er macht sehr vieles selbstständig, da reden wir gar nicht mehr.
Die Arbeit mit den türkischen Darstellern war auch bemerkenswert. Ich bin immer wieder überrascht, wie schnell man sich nahe kommt und eine Beziehung aufbaut, selbst wenn die Sprache ein Hindernis ist. Die Beziehung zwischen Kamera und Schauspiel ist ja immer eng und intensiv. Zwar kannte ich selbstverständlich das Drehbuch, aber die türkischen Dialoge habe ich natürlich nicht in jeder Nuance verstanden. Trotzdem hat man das Gefühl, man versteht alles, obwohl es ja eigentlich unmöglich ist. Man gewinnt außerdem noch einen genaueren Blick auf das Schauspiel, weil die verbale Ebene wegfällt und die nonverbale umso bedeutsamer wird – das finde ich immer sehr interessant.
Man kann sich darauf konzentrieren, was man sieht und nicht auf das, was man hört. Genau, und das ist ja auch Film. Was sehe ich wirklich? Und was wird mir nur gesagt? So habe ich manchmal das Gefühl, eine Atmosphäre besser beurteilen zu können, wenn der Text wegfällt und man nur auf das Spiel und seine Feinheiten achten muss.
Was hast du für dich aus diesem Projekt für deine aktuelle und zukünftige Arbeit mitgenommen? Mein Interesse an multiperspektivischen Geschichten und ungewöhnlichen Erzählformen, das immer schon vorhanden war, ist durch dieses Projekt noch einmal gestiegen. Als Spielfilm-Kameramann bekommt man ja häufig eher linear erzählte Projekte auf dem Tisch. Wenn ich dann einen Stoff lese, der anders und ungewöhnlich erzählt wird, ist das für mich sofort ein Grund, dieses Projekt eher in Erwägung zu ziehen. Ich habe zuletzt mit Ulrich Köhler im Senegal und in Berlin gedreht, einen Kinofilm, der auch sehr verschachtelt auf verschiedenen Ebenen spielt. Diese Suche nach ungewöhnlichen Lösungen interessiert mich enorm und bei der Arbeit an „Im toten Winkel“ habe ich noch einmal deutlich gemerkt, dass ich eine große Sehnsucht nach experimentellen Formen auf der erzählerischen Ebene habe. [15496]