Wir stellen die Preisträger des 34. Deutschen Kamerapreises vor (4)
Ebenen gestalten
von Uwe Agnes,
Unsere Reihe mit den Preisträgerinnen und Preisträgern beim 34. Deutschen Kamerapreis geht weiter: Christopher Aoun wurde in der Kategorie Fiction Screen für seine Kameraarbeit bei „ZEIT Verbrechen – Deine Brüder“ ausgezeichnet.
Christopher Aoun wurde in Beirut geboren und studierte zunächst Kamera an der USJ de Beyrouth, bevor er sein Studium an der HFF München fortsetzte. In seiner Heimat drehte er Philippe Aractingis „Listen“ und Nadine Labakis oscarnominierten Film „Capernaum“, für den ihm 2019 der Deutsche Kamerapreis verliehen wurde. Das Fachmagazin „Variety“ wählte ihn zu einem der „Ten Cinematographers to Watch“, während ihn das „American Cinematographer Magazine“ einen „Rising Star of Cinematography“ nannte. „The Man Who Sold His Skin“ wurde 2020 bei den Filmfestspielen von Venedig ausgezeichnet und bei den 93. Academy Awards als bester internationaler Film nominiert. 2022 drehte Christopher Aoun für Netflix die Serie „Die Kaiserin“, die einen Internationalen Emmy als beste Drama-Serie gewann. Er ist Mitglied der Deutschen und Europäischen Filmakademie sowie der Academy of Motion Picture Arts and Sciences.
Herzlichen Glückwunsch zum Deutschen Kamerapreis, und zwar gleich zum zweiten Mal! War es anders als beim ersten Mal? Es war schön, eine Anerkennung zu bekommen für einen ganz anderen Film und ganz anderes Format als beim ersten Mal, als ich in der Kategorie Spielfilm ausgezeichnet wurde. Ich habe am Anfang meiner Karriere ein bisschen mit der Entscheidung gekämpft, ob ich Spielfilme für Kino oder Fernsehen machen soll. Deshalb war es schön zu sehen, dass auch beim Fernsehen so viel Emotion wie beim Kino möglich ist und dass beide Formate für mich das Gleiche gegeben haben. Außerdem war es toll, die Community zu spüren, die meine Arbeit schätzt, und das Gefühl zu haben, von Menschen wahrgenommen zu werden, die einen wertschätzen.
Nun waren diese beiden Projekte ja nicht nur unterschiedlich, was das Format angeht, sondern auch inhaltlich sehr verschieden, dieses Mal mit einer sehr persönlichen Komponente für dich. Ja, das stimmt. Die Hauptfigur ist nah an einer Person in meiner Familie. Deshalb war es auch eine Art Therapie, diesen Film zu drehen und mich dabei mit dieser Krankheit auseinander zu setzen, das visuell darzustellen und mir den Raum zu erlauben, komplett frei meinen Bezug, den ich dazu habe, mit der Krankheit und auch mit dem Ausländer-Sein, gestalten zu können. In dieser Hinsicht war das Projekt für mich eine tolle Fläche.
Wie hat das deine visuelle Gestaltung beeinflusst und was war für dich das Ergebnis in diesem Prozess? Bei „Deine Brüder“ gab es zwei Ebenen: die Ebene im Gericht und dann Rückblenden oder Flashbacks des Lebens der Hauptfigur, die während der Gerichtsverhandlung schon tot ist. Bei der Ebene im Gericht geht es um das Gesetz und die Art, wie die deutsche Gesellschaft, Behörden und Justiz auf Communities und Gruppen von Ausländern blickt und welchen Bezug sie zueinander haben. Die Flashbacks als zweite Ebene waren wie ein Liebesgedicht an einen Menschen, den es nicht mehr gibt, der von außen zerstört und als kriminell gesehen und verurteilt wurde.
Das kriminelle Auftreten ist aber Ergebnis einer psychischen Krankheit. Genau, einmal das, und es ist auch das Ergebnis einer Überforderung des Systems, mit so einem Fall klarzukommen. Es gibt im Film den tollen Satz eines Polizisten, der sagt „Dafür waren wir nicht ausgebildet“ – und so gibt es plötzlich eine Gruppe von Menschen, die keine Hoffnung haben können, weil es keine Aussicht auf Hilfe gibt. Das führt dann dazu, dass sie am Ende selbst handeln müssen und ihren besten Freund umbringen.
Wie hast du diese zwei Ebenen gestaltet? Zuerst habe ich mich damit beschäftigt, was ein Flashback und was Realität ist, und dann habe ich mich entschieden, die Szenen im Gericht mit Anamorphoten und langen Brennweiten zu drehen, um eine Distanz zur anderen Ebene zu schaffen. Im Gericht schaut man wie durch einen Schleier, es ist sehr unpersönlich, auch steril, aber die Kamera sucht die Menschen. Die andere Ebene habe abgegrenzt, indem ich mit sphärischen Objektiven sehr weitwinklig gedreht habe. Außerdem gibt es dort sehr viele Wechsel im Genre. Manchmal ist es eine Handheld-Kamera, manchmal eine sehr überraschende Kamera. Ich wollte erreichen, dass jeder Flashback eine eigene Interpretation eines bestimmten Moments oder eines bestimmten Gefühls ist und ich dem alles widme und unterordne, um das zu erreichen. Im Gericht ist es das genaue Gegenteil. Dort wollte ich, dass alles sehr distanziert und kühl bleibt.
Wenn du sagst, dass die Flashbacks formal sehr unterschiedlich gestaltet sind – wie hast du entschieden, wo du was machst? Helene und ich haben immer wieder zusammen geschaut, wo die Sequenz im Film positioniert ist, also wie der Flashback zwischen den Gerichts-Szenen steht. Was ist das Ziel in diesem Moment? Wir haben auch sehr viel über das Gefühl gesprochen, das mit der Szene verbunden ist, zum Beispiel wo Cem seiner Freundin einen Heiratsantrag macht. Da wollten wir sehr intim und handheld drehen. Wir haben wirklich für jeden Flashback untersucht, worum es emotional geht und dann dafür eine visuelle Darstellung zu finden. Der Film hat nur 60 Minuten, ist also relativ kurz, deshalb wollten wir in den Flashbacks eine physische Erfahrung anbieten, die sich sofort vermittelt.
Unter den physischen Erfahrungen sticht die Nachtclubszene heraus. Meine persönliche Erfahrung mit dem Thema hat sehr beeinflusst, wie wir die Club-Szene gestaltet haben, und sie ist auch gleichzeitig ein Wechsel zwischen den Ebenen im Film in einer Einstellung. Die Szene beginnt bei der Anwältin, dann fliegt die Kamera durch einen Spiegel in einen Flashback, der aber noch in der Schwebe ist, bis wir sozusagen im Kopf der Hauptfigur ankommen. Dort haben wir auf Handheld-Kamera gewechselt und weitwinkliger gedreht, um einen immersiven Effekt zu erzielen und das Gefühl zu verstärken, dass wir im Kopf dieser Person sind, die aber nicht mehr klar denken kann.
Dieser Wechsel von einer Ebene zur anderen in einem Take war wirklich interessant. Ich hatte gesehen, dass es in der Location einen riesigen Spiegel gab und dachte, es wäre interessant, hier eine Choreografie hinzubekommen, wo man eigentlich die ganze Zeit einen Flashback sieht, aber es noch nicht weiß. Es war toll, diese Szene zu drehen, und ich bin froh, dass es so geklappt hat, wie wir gehofft hatten.
Du hast bei deiner Rede auf der Gala zum Deutschen Kamerapreis deine grundsätzlichen Zweifel an deinem Beruf zum Thema gemacht. Wie siehst du das aktuell mit ein paar Monaten Abstand? Als ich angefangen habe, in diesem Beruf zu arbeiten, war das die Zeit vor Instagram und Tiktok, wo mittlerweile jede Person ihr Leben dokumentieren kann. Ich habe meinen Beruf immer als ein Sammeln und Archivieren von Bildern gesehen und wollte einfach die Zeit dokumentieren, in der wir leben. Deswegen habe ich auch ursprünglich mit Dokumentarfilm angefangen. Aber die Filme, die ich jetzt mache, haben für mich noch immer die gleiche Essenz, mit der ich angefangen habe. Sie bewegen mich in der gleichen Art, wie die Dokumentarfilme, die ich gemacht habe.
Der Zweifel ist, glaube ich, daraus entstanden, dass die Men- schen die Bilder nicht mehr wahrnehmen oder akzeptieren wollen. Statt nach Inspiration zu suchen, filtern die Leute einfach mehr.
Es geht für mich darum, was ein Bild bedeutet, und ich habe das Gefühl einer sehr großen Verantwortung, denn ich bin auch einer derjenigen, die Bilder generieren. Aber es gibt so eine Flut an Bildern, dass ich es in Frage gestellt habe, noch mehr Bilder in die Welt zu bringen. Was soll Ihre Botschaft sein?
Die Bilder brauchen eine Daseinsberechtigung. Das ist aber auch ein Bezug, den ich brauche. Ich muss zu 100 Prozent sicher sein, dass ich hinter diesen Bildern stehen kann, weil sie eine so große Kraft haben können. Alle Bilder werden benutzt und performt und ich finde, es ist gerade eine sehr interessante Phase, auch mit Blick auf KI, die wir durchleben, was Wahrnehmung angeht.
An welchem Projekt arbeitest du gerade? Ich habe ein Drehbuch angenommen, das sehr berührend ist und auch die Hauptfigur ist toll und außergewöhnlich. Es ist ein Film, der Hoffnung gibt und wo ich am Ende des Buchs geweint habe, aber mit einem sehr positiven Blick auf die Welt. Das hat mir bei den letzten Projekten sehr gefehlt. Ich möchte Filme schaffen, die menschlich sind und auch Hoffnung geben. Durch diesen neuen Film, den ich angenommen habe, bekomme ich das Gefühl, wieder eine Hoffnung zu haben, einen optimistischeren Blick und etwas Wichtiges zu machen. Als ich den Kamerapreis bekommen habe, war ich noch mit einem Film beschäftigt, wo es um den Nahost-Konflikt ging und wo wir auch den Dreh abbrechen und fliehen mussten.
Vor dem Hintergrund kann ich das Bedürfnis nach etwas Optimismus gut nachvollziehen. Gerade merke ich, dass jeder Film, den ich mache, mich zu einem etwas anderen Menschen macht. Ich sehe meine Entwicklung und es ist sehr schön zu merken, wie jeder Film und jeder Umgang mit Menschen mich und meine Arbeit komplett beeinflusst und ändert. Deswegen sind die Filme, die ich mache, auch so unterschiedlich. Wenn ich ständig die gleiche Art Filme machen würde, dann gäbe es für mich keine künstlerische Entwicklung. Aber jede Erfahrung, die ich mache, die Reisen und die Mischung verschiedener Kulturen bringen zusammen etwas komplett Neues für das nächste Projekt. [15496]