Die Edimotion-Preisträgerin Gabriele Voss im Interview
Menschen bei sich lassen
von Sven Ilgner,
Beim Edimotion Festival für Filmschnitt und Montagekunst wurde die Editorin Gabriele Voss mit dem Ehrenpreis ausgezeichnet. Wir haben für unser Heft 10.2024 mit der Preisträgerin gesprochen.
In deiner Buchveröffentlichung „Schnitte in Raum und Zeit“ stellst du Editorinnen und Editoren wie Beate Mainka-Jellinghaus, Wolfgang Widerhofer oder Bettina Böhler eine Frage, die ich dir zu Beginn auch stellen möchte: „Was ist Montage?“ Schwierig. Eine Definition hört sich immer gut an, aber eigentlich kann ich das nur als Prozess beschreiben. Zum Verständnis möchte ich vorab sagen, dass ich Dokumentarfilme schneide. Manche denken vielleicht: Man hat einen Plan, beim Spielfilm ein Drehbuch, beim Dokumentarfilm ein Konzept, und danach schneidet man dann. Für mich ist das nicht so. Ich gehe nicht mit einem Plan in den Schneideraum. Anfangs habe ich nur eine ungefähre Vorstellung vom Film. Letztendlich findet sich die Form aber im Tun, im Prozess des Hintereinanderstellens, des Umstellens, des Entscheidens über Zeit und Rhythmus. Selbst, wenn ich beim Drehen dabei bin und die Absichten kenne, die es bei der Aufnahme gibt, mache ich mich mit Beginn des Montageprozesses davon frei und sehe nur noch das, was auf dem Bildschirm im Schnittraum zu sehen ist – was nicht leicht ist, aber man kann es lernen und auch üben.
Du bist ja häufiger als die meisten Editorinnen Teil des Drehs, arbeitest als Co-Regisseurin mit Christoph Hübner an den Projekten. Wie sieht dieser Lernprozess aus? Für mich ist das Interessante an diesem Prozess, das Mitgebrachte, die Absichten zur Seite zu tun und nur noch das Material zu sehen: „Was ist da auf dem Bildschirm?“ Das genaue Hinschauen ist ein Grundpfeiler der Montage. Nicht in die Bilder hineinzusehen, was wir meinen oder beabsichtigen, sondern wirklich zu sehen, was da ist. Es ist, als ob ich einen Gegenstand von allen Seiten betrachte, ihn immer wieder wende und immer noch Neues entdecke. Später, bei ersten Vorführungen, kommt dann zum Vorschein, was andere sehen, und ob das, was wir sichtbar und erfahrbar machen wollen, auch wirklich sichtbar wird.
Das klingt nach einem Prozess, der nie abgeschlossen ist. Aber ein Film muss im Normalfall zu einer bestimmten Zeit abgeschlossen sein. Kannst du den Moment skizzieren, in dem der Film seine Form gefunden hat.
Film ist ein zeitbasiertes Medium. Alles spielt sich auf der Zeitachse ab. Ich habe im Material nicht ein einzelnes Element, sondern auf der Zeitachse viele Elemente. Die bringe ich nicht nur in eine Abfolge, sondern in eine Balance. Wir ringen lange darum, die richtige Gewichtung oder Balance der einzelnen Elemente zu finden. Und das Gefühl, dass wir den Film herausgeben können, stellt sich ein, wenn die Balance gefunden ist, wie bei einem Gebäude, bei dem man das Gerüst wegnimmt und es hält in sich. Wenn man ein tragendes Element wieder herausnimmt, bricht das Ganze zusammen.
Deine Arbeit als Editorin zeichnet sich besonders durch episches Erzählen aus, beispielsweise in den „Emscherskizzen“ oder auch bei „Thomas Harlan – Wandersplitter“. Hier steht das „Gebäude“ als Ganzes. Das Publikum wird aber auch ermutigt, nur einzelne Elemente anzuschauen. Stört es dich, wenn man das Gesamtkonstrukt nicht ganz wahrnimmt?
Es ist einfach eine andere Wahrnehmung. Wenn ich zum Beispiel in die Literatur blicke und die „Dubliner“ von James Joyce als Ganzes lese, ist das etwas anderes, als wenn ich nur einzelne Geschichten davon lese. Es entsteht ein anderes Bild. Bei „Wandersplitter“ ist es ein Angebot, dass man sie einzeln nimmt und für sich auf andere Weise zusammensetzt. Im Wort „Splitter“ ist das schon ausgedrückt.
Die einzelnen Stücke sind aber noch keine Erzählung. Die entsteht erst durch unsere Anordnung auf der Zeitachse des Films. Es stört mich nicht, wenn man einzelne Stücke schaut, solange das nicht bedeutet, dass unsere Erzählung gar nicht mehr wahrgenommen wird – wobei wichtig ist, dass unsere Erzählungen nicht so eng kausal verknüpft sind wie das vielleicht in einem dreiaktigen Spielfilm der Fall ist.
Ist es wichtig für dich, dass du erst mit dem analogen Schnitt begonnen hast? Hast Du etwas mitgenommen aus der analogen Zeit? Mir ist wichtig, dass ich mit dem Material spielen kann, nicht alles aufreihen muss wie Perlen auf einer Schnur. So war das beim analogen Videoschnitt. Wenn schon 100 Perlen hintereinander gehängt waren, man aber die zwölfte Perle wieder rausnehmen wollte, musste man alle Perlen, die danach kamen, wieder abnehmen. Diese Art des Denkens in linearen Abfolgen liegt mir nicht. Der analoge Filmschnitt war dagegen viel näher am heutigen digitalen Schnitt. Man konnte das Material zerlegen in kleine oder größere Rollen mit einzelnen Einstellungen oder auch ganzen Szenen: schwarze für das Bild und braune für den Ton. Damit konnte man spielen, ausprobieren, Abfolgen schnell umstellen. Das geht im Digitalen jetzt noch schneller, auch was den Ton betrifft. An einem Sechs-Teller-Tisch gab es nur eine Bildspur und zwei Tonspuren. Man konnte die Arbeitskopie mit zwei Originaltonspuren vorführen oder aber nur mit einer plus Sprache oder aber Musik. Du musstest dir bei Rohschnittsichtungen immer noch Vieles vorstellen. Durch den analogen Filmschnitt habe ich das gelernt. Ich kann mir Vieles vorstellen, ohne dass ich es immer schon sehen oder hören muss.
Als Zuschauer bin ich fasziniert, wie schnell und direkt ich eurer Erzählung vertrauen kann. Wie stellt ihr das Vertrauen her? Und worauf achtest du bezogen auf Wahrhaftigkeit?
Mir fällt dazu Godard ein, der gesagt hat: „Es gibt nichts hinter der Oberfläche.“ Im Deutschunterricht lernen wir die ganze Zeit: Es gibt ganz viel hinter der Oberfläche. So sind wir auch sozialisiert. Im Film gibt es aber nichts hinter der Oberfläche – zunächst jedenfalls. Daher ist mein erzählerisches Anliegen, dass ich die Zuschauer und Zuschauerinnen auch nicht verleite, hinter dem, was sie im Moment sehen und hören, immer noch etwas anderes zu suchen. Wenn das Publikum das Gefühl hat, es kann dem vertrauen, was im Moment gegeben wird, und später kann es das auf seine Weise verstehen, dann haben wir viel erreicht. Ob das als Wahrhaftigkeit empfunden wird, weiß ich nicht.
Das ist eine gute Beschreibung meiner Erfahrungen, wenn ich mir eure Filme ansehe.
Bei unserem Film „Nachlass“ wollten wir dem Publikum die Möglichkeit geben, die Protagonisten im Laufe des Films kennenzulernen. Und nicht gleich zu Anfang durch Bauchbinden erklären, wer das ist. Das hätte zu viel vorweggenommen und die Neugier auf die Personen beeinträchtigt. Bei „Anna Zeit Land“ wollten wir die Menschen auf eine Reise ins Offene mitnehmen, statt ihnen mit dem Film ein Ergebnis zu präsentieren, das sagt: „So ist Deutschland 1990 bis 1993.“ Montage ist für mich immer auch eine Bewegung ins Offene, nicht nur bei diesen Filmen.
Ich komme den Menschen in euren Filmen so nah wie in nicht vielen anderen. Das erstaunt mich. In der Montage hast du Macht über die Personen und damit auch eine Verantwortung. Kannst du beschreiben, wie du damit umgehst?
Ich frage mich im Laufe der Montage immer wieder: Wie sind die Menschen bei sich? Die Menschen müssen natürlich schon in der Aufnahme bei sich sein, aber in der Montage kann man sie ja auch auf Rollen oder Funktionen zurechtstutzen. Das eben nicht zu tun, darum geht es. Da geht es oft um kleine Gesten, wie sie sich innerlich darauf einstellen, dass jetzt etwas gesagt wird. Oder, wenn sie Pause machen, zu bemerken, ob sie vielleicht noch etwas ergänzen wollen. Diese Momente schneide ich nicht weg. Ähnlich wie im Buch hätte ich im Film „Schnitte in Raum und Zeit“ die Aussagen der verschiedenen Editor:innen nach thematischen Gesichtspunkten wie Materialaneignung, Rohschnitt oder Final Cut montieren können. Damit hätte ich die Editor:innen aber auf Themen reduziert und die Möglichkeit genommen, beim Zuschauen ein Gespür für die Eigenart der einzelnen Personen zu entwickeln. Bei „Nachlass“ gibt es zum Beispiel anfangs längere Blicke in die Kamera, bevor jemand spricht. Wenn ich jemandem begegne, ist das Wort ja nicht das erste, sondern der Blick. Über den Blick vermittelt sich vielleicht das Gefühl einer langsamen Annäherung, eines Kennenlernens. Man weiß nicht gleich Bescheid. [15940]