Was ist die Rolle der Virtual Production in der Zukunft der Filmproduktion?
Alle an Bord holen
von Timo Landsiedel,
Virtual Production hat sich zu einem fester Faktor in der hiesigen Produktionslandschaft entwickelt. Aber gibt es hierzulande überhaupt genügend Projekte wie „1899“, die das Potenzial der Technologie ausschöpfen? Nein, aber das sei auch nicht nötig, sagen Trixter-Geschäftsführerin Christina Caspers-Römer und Creative Technologist Tobias Stärk. Wir sprachen für unsere Ausgabe 11.2024 mit den beiden über die Zukunft der Virtual Production und über das Virtual Production Handbook der Visual Effects Society.
Die Grundlagen der Virtual Production gibt es schon seit den ersten Tagen des Films. Die Rückprojektion von bewegten Inhalten auf die Leinwand im Studio, um zum Beispiel Autofahrten zu simulieren, geht bis ins Jahr 1918 zurück. Heutzutage sind die Verfahren aufwendiger und natürlich auch überzeugender. Am aktuellen Ende der technologischen Entwicklung steht die Virtual Production, deren eindrucksvolle Möglichkeiten ohne immense Rechenpower undenkbar wären. So war es in den letzten fünf Jahren möglich, mit der eigentlich für Computerspiele entwickelten Unreal Engine fotorealistische Hintergründe zu erschaffen, die live und in Echtzeit im Studio manipuliert werden können.
Grundlagen
So mannigfaltig jetzt die Möglichkeiten sind, so unterschiedlich sind auch die technischen Mittel der einzelnen Anbieter und vor allem das Know-how in der Branche. Wann ergibt es für mein Projekt wirtschaftlich und kreativ Sinn, mit Virtual Production zu arbeiten? Was ist machbar, was nicht? Und wie war das noch mal mit der Qualität des LED-Lichts?
Um für diese Fragen zumindest einen gemeinsamen Jargon zu etablieren, stellte 2023 die Visual Effects Society VES die Publikation „The VES Handbook of Virtual Production“ vor. Der Leitfaden enthält neben der Klärung der wichtigsten Fachbegriffe eine Abhandlung aller relevanten Bereich der Virtual Production im Produktions-Workflow, von der Vorproduktion über den Aufbau eines Studios, die Auswahl der passenden LED-Panels und der Hardware für die Bespielung mit Inhalten. Außerdem gibt es Tipps zum kamerainternen Compositing von Live-Action- und CG-Elementen sowie Informationen darüber welche Rolle den Virtual Art Departments, der Virtual Vorvisualisierung und dem Virtual Location Scouting zukommt.
Auf der Film & Media Exchange FMX in Stuttgart im April wurden das Handbuch und seine Inhalte von VES-Mitgliedern vorgestellt, die zur Erstellung beigetragen hatten. Neben Christina Caspers-Roemer und Tobias Stärk saßen auf dem Panel auch Nils Pauwels, Director of Virtual Production bei den Ready Set Studios sowie Markus Trautmann, Geschäftsführer von Sehsucht. Caspers-Römer und Stärk waren beide an der Produktion des aktuell aufwendigsten deutschen Virtual-Production-Vorhabens involviert. Als Geschäftsführerin leitete Caspers-Römer die Geschicke der produzierenden Dark Bay GmbH, Stärk war in der Vorproduktion Technical Director und Technical Artist beim VR Scouting der virtuellen Motive, unterstützte als Realtime Environment Artist das Virtual Art Department und war dann bei den Dreharbeiten Technical Artist im technischen Kontrollzentrum, der sogenannten Brain Bar. Nach „1899“ war Stärk Creative Tech Lead bei Dark Bay.
Für Christina Caspers-Römer ging es bei der Erstellung des Handbuchs vor allem darum, gemeinsame Grundlagen für eine Kommunikation zu legen, in der es keine Missverständnisse gibt. Die nämlich können im Zweifel teuer werden. „Es gab die Idee, Prozesse und Definitionen der Begriffe zu standardisieren, um einfach besser miteinander kollaborieren zu können“, so Caspers-Römer. „Es heißt ,Brain Bar‘ bei uns, vielleicht heißt es irgend- wo anders ,Kontrollzentrum‘.“ So präzisierten Susan Zwerman und Jeffrey A. Okun die verschiedenen Standards zunächst einmal durch eine konkrete Definition und machten diese über das Handbuch branchenweit zugänglich.
Vorteile
Denn Virtual Production, so betont Caspers-Römer, ist nicht die Lösung aller Probleme mit Reflexionen und Set-Extensions durch einen Klick. Der Aufwand und die Vorarbeit verschieben sich vielmehr im zeitlichen Ablauf und in den zuständigen Gewerken. Ob das klug für das Projekt ist, muss von Vorhaben zu Vorhaben abgewogen werden. Ob die Vorteile nutzbar sind, liegt also ganz klar an der Struktur des Projekts.
Viele Skripte, so Caspers-Römer, die sie in Europa zu sehen bekommt, spielen die meiste Zeit innen. Es wird ein Establisher benötigt, beispielsweise die 5th Avenue in New York City. Die für so etwas abzusperren, ist natürlich sehr teuer, eher wird so ein Shot angekauft. „Darauf sind Scriptwriter oftmals auch schon konditioniert, weil sie wissen, in welchen budgetären Regionen sie sich bewegen müssen“, so Caspers-Römer. „Mit Virtual Production hast du die Möglichkeiten, sie einfach freier denken zu lassen. Du kannst einen ganzen Film auf der 5th Avenue spielen lassen!“ Aus diesem Grund sei es für sie logisch, schon so früh wie möglich, also idealerweise schon beim Schreiben des Buchs, mit der Weiterbildung in Sachen Virtual Production anzusetzen. Dasselbe gilt natürlich auch für alle anderen involvierten Gewerke wie Szenenbild, Licht oder Grip. [15494]