Warum entwickelt der Hessische Rundfunk so viel Innovatives?
Bodenständige Exoten
von Timo Landsiedel,
Die von Fernsehfilm-Chef Jörg Himstedt und seinem Team beim Hessischen Rundfunk produzierten Tatorte, Fernsehfilme und Kino-Koproduktionen gewinnen immer wieder Preise und überzeugen auch das Publikum. Wir haben ihn in unserem Heft 12.2020 gefragt, was das Credo hinter diesem Erfolg ist und warum gerade ein kleiner Sender so viel Qualität schafft.
Es scheint, als hätte man in Hessen das Geheimrezept für erfolgreiche Produktionen gefunden. Auffällig oft liest man im Vorspann interessanter, innovativer oder immerhin heiß diskutierter Fernsehfilme oder Kino-Koproduktionen die Namen der HR-Redakteure aus Frankfurt. So im Publikumspreis-Gewinner des Max-Ophüls-Preises 2016 „Schrotten!“ von Max Zähle sowie 2016 in Lars Kraumes „Der Staat gegen Fritz Bauer“ und 2013 in Jan Ole Gersters „Oh Boy“, die jeweils den Deutschen Filmpreis in Gold als Bester Film erhielten. Mit „Tatort – Murot und das Murmeltier“, „Tatort – Falscher Hase“ und „Bist Du glücklich?“ waren es allein in diesem Jahr drei Grimme-Preis-Nominierungen für Produktionen aus einer einzigen Redaktion, zudem noch inhouse im Sender produziert. „Bist Du glücklich?“ erhielt dann den Deutschen Fernsehpreis als Bester Fernsehfilm. Vor allem der mit Ulrich Tukur besetzte Tatort ist beispielhaft für das stetige Streben der Fernsehfilm-Redaktion nach besonderen Filmstoffen und dem wiederkehrenden Bruch mit Erwartungen.
Das war nicht immer so. Der Wandel begann 1999 mit der Einstellung von Liane Jessen als Chefin der Fernsehspielabteilung, die vom Kleinen Fernsehspiel des ZDF kam. Jörg Himstedt folgte etwa ein Jahr später. Zusammen prägten die beiden 20 Jahre lang das Bild der Abteilung und vor allem deren Produktionen. Himstedt studierte in Berlin Geschichte, Publizistik sowie Theaterwissenschaften und arbeitete seinerzeit bereits beim VideoFilmFest, heute Transmediale. Später war er als freier Mitarbeiter in der Fernsehfilmredaktion des Norddeutschen Rundfunks tätig sowie fest als Filmredakteur beim damaligen Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg ORB, Vorgänger des RBB. Von hier aus bewarb er sich beim Hessischen Rundfunk und ging 1999 nach Frankfurt. Nach 20 Jahren folgte er 2019 seiner Chefin Liane Jessen in der Leitung der Fernsehspiel-Redaktion.
Kurze Wege
Ab 1999 stellten Jessen und Himstedt die Arbeit der Redaktion neu auf. Jörg Himstedt fasst das Credo zusammen: „Es ist gemeinsam die Idee entstanden: Wenn wir schon so klein sind und im ARD-System auch zuliefern müssen, sollten die Filme im besten Fall etwas Besonderes haben und herausstechen.“ So etablierten Jessen und Himstedt ab 2002 das neue Tatort-Team Sänger und Dellwo, in deren Rollen Andrea Sawatzki und Jörg Schüttauf 18 Mal ermitteln durften. 2010 gelang dem HR-Team zudem ein besonderer Wurf. Sie konnten Charakterschauspieler Ulrich Tukur als Wiesbadener Kommissar Felix Murot verpflichten, der sich jedoch ausbedungen hat, auch formal eher ungewöhnlichere Fälle lösen zu dürfen. Als zentral dafür, Stoffe wie die Murot-Tatorte machen zu können, sieht Jörg Himstedt die kurzen Wege für Entwicklung und Produktion und den auch daraus resultierenden Freiraum. „Mir redet da niemand rein“, sagt der Redakteur. Die kurzen Wege rühren auch daher, dass der Hessische Rundfunk in der ARD eine Sonderstellung hat. Seine Fernsehfilme produziert der HR komplett selbstständig, bei den Eigenproduktionen kommen also keine externen Produktionsfirmen zum Einsatz.
„Das ist für Regisseure nicht unspannend, weil alles aus einer Hand kommt“, benennt Himstedt einen der Vorteile. Bei einem Sender mit Auftragsproduktionen müssen es die Kreativen neben den Redaktionen also noch mehr Leuten recht machen. Ein Nachteil ist, dass die Budgets etwas eingeschränkter sind und man nicht an jeder Position seine Wunschkandidaten aus der freien Wirtschaft unterbringen kann. Das Zurückgreifen auf fest angestellte Gewerke wie Maskenbild oder Szenenbild und die Werkstätten vor Ort hat aber wiederum auch Vorteile. In dem Kontext werden dann klassische Kalkulationsentscheidungen sehr zentral. Wird ein eher kostenintensiver Schauspieler gecastet, so muss in den Nebenrollen auf weniger etablierte Kollegen zurück gegriffen werden. Diese Einschränkungen führen zu einer gewissen Bodenständigkeit.
Die Suche nach neuen Talenten läuft beim HR genau wie bei den anderen TV-Redaktionen. Man besucht die einschlägigen Nachwuchsfestivals und die Filmhochschulen, um Kontakt zu vielversprechenden Newcomern und Absolventen herzustellen. Ist ein interessanter Autor oder Regisseur dabei, hat Jörg Himstedt ein persönliches Kriterium für die Gespräche mit den Kreativen. Gute Chancen hat, wer sich auch gut in der Filmgeschichte auskenne. „Ich bin Cineast, wir sind alles Cineasten hier“ so Himstedt. „Es ist so ein bisschen Grundbedingung, sich erst mal darüber auszutauschen, was findet man toll, welche Filme gefallen uns und welche Filmsprache gefällt uns.“
Filmfamilien fördern
Himstedt sieht eine für ihn beunruhigende Tendenz, dass sich viele angehende Filmemacher in der Film- und Fernsehgeschichte nicht mehr auskennen. Das sei vor allem unangenehm, wenn er mit Kreativen spricht, die einen Tatort mit ihm drehen wollen und die bisherigen Tatorte des HR nicht kennen. Das sei eine Haltung, die er nicht verstehe. Auch wenn sich der Redakteur erklären kann, woher das rührt. „Ich möchte niemandem Unrecht tun, aber das ist halt eine Generation, die teilweise kein Fernsehen mehr guckt oder nicht einmal mehr damit aufgewachsen ist.“ Wenn aber in Zeiten von Google und Mediatheken auf eine Basisrecherche verzichtet werde, sei er auch unwillig, dann auf jemanden zuzugehen.
In Hessen gibt es zwar die HfMA, einen Zusammenschluss hessischer Film- und Medienstudiengänge, aber keine klassische Filmhochschule. Das heißt auch, dass es keine gewachsene Infrastruktur zum Heranziehen von kreativen Teams im eigenen Bundesland des HR gibt. Jörg Himstedt bedauert das. Ebenso wenig gibt es keine eigene Option zur Debütförderung, wie ihn SWR mit der MFG und der Kooperation mit der Filmakademie Baden-Württemberg hat. Alles das ist aber nur ein Grund mehr, die wenigen Stoffe im Hause zum Strahlen zu bringen.
Das geschieht auch über die Auswahl der Teams. Was Himstedt gerne fördert, sind „Filmfamilien“ aus Regie, Kamera und Drehbuch, die vielleicht schon seit der Filmhochschule zusammenarbeiten. „Natürlich ist durchaus die Idee des Senders, auch intern Kameraleute auszubilden“, sagt Himstedt. Als Vorbild dafür nennt er den mittlerweile pensionierten Kameramann Armin Alker, der viele HR-Produktionen unter anderem für die Regisseure Lars Kraume und Edward Berger drehte. Andererseits verstehe er die Kritik daran. Intern werden ja vor allem „multifunktional verwendbare“ Kameraleute ausgebildet. Dass jemand, der einen Zweiminüter für das Regionalmagazin dreht, nicht genauso gut am nächsten Tag auf fünf Wochen Tatort-Dreh gehen kann, sei klar. „Da hat uns ein bisschen die Realität der Branche eingeholt“, sagt Himstedt. Ganz unglücklich kann er damit nicht sein. So gewann der freie DoP Börres Weiffenbach für seine Arbeit an der HR-TV-Produktion „Dead Man Walking“ 2017 den Deutschen Kamerapreis. „Da kommt natürlich eine ganz andere Qualität und ein Vorwissen ins Spiel, von dem wir und unsere Produktionen nur profitieren können“, räumt Himstedt ein.
Die Trüffelsuche nach innovativen Talenten geht nicht immer auf. Dessen ist sich Himstedt durchaus bewusst. Manchmal komme man künstlerisch, manchmal auch menschlich nicht zusammen. „Welches Buch wir herausragend finden, ist ja immer eine Mischung aus Kopf- und Bauchgefühl. Es ist am Ende so, dass wir diese Entscheidung treffen müssen.“ Für kleine Sender wie den Hessischen Rundfunk ist hier neben der Innovation oft entscheidend, dass er weniger Produktionen an den Start bringen kann als große Sender mit mehr finanzieller Ausstattung. [13836]