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Die Editorin Karin Schöning im Gespräch

Die Vermessung der Zeit

Beim Festival für Filmschnitt Edimotion wurde 2020 die Schnittmeisterin Karin Schöning mit dem Ehrenpreis Schnitt ausgezeichnet. Werner Busch sprach für unsere Ausgabe 11.2020 mit der Preisträgerin.

Porträtfoto von Karin Schöning

Der Eröffnungsfilm des Edimotion-Festivals ist dein Film „Der Boxprinz“ aus dem Jahr 2000. Ich glaube, ich bin bei YouTube zum ersten Mal darauf aufmerksam geworden, weil eine bestimmte Szene des Films millionenfach angeklickt wurde. Es gab sogar Videos von Jugendlichen auf der Plattform, die diese Szene mit großem Spaß nachstellen. Das ist ungewöhnlich für einen deutschen Dokumentarfilm.
Ja, die Szene kennt jeder, glaube ich. Die berühmte Backpfeife von dem Zuhälter Stefan Hentschel, der einen Passanten mit der flachen Hand niederschlägt, der neben ihm stehen geblieben ist. Dann geht Hentschel einfach weiter mit dem Kommentar, dass er keinen Bock habe, mit diesen Leuten zu reden und grüßt irgendjemanden in der Ferne fröhlich mit „Hallo Werner“, als wenn nichts gewesen wäre. Diese Szene hat einen gewissen Kultstatus im Internet gehabt. Wir haben sehr lange darüber diskutiert, ob sie im Film sein sollte und bei vielen Vorführungen wurde Kritik daran geübt. Insbesondere bei einer Vorstellung nach dem Kinostart, bei der der Regisseur Gerd Kroske auf der Bühne beschimpft wurde. Diese Person aus dem Publikum versuchte wegen der Szene, sogar juristisch gegen den Film vorzugehen. Ich bewundere die Kamerafrau Susanne Schüle dafür, dass sie mit ihrer großen 35-mm-Kamera unerschrocken und ganz professionell ihre Arbeit weitermachte.

Hast du damals noch analog geschnitten?
„Der Boxprinz“ war der letzte Film, den ich analog geschnitten habe. Eigentlich hatte ich mir geschworen, dass ich nie digital schneiden werde. Aber zum Glück habe ich mich überreden lassen und eine Weiterbildung gemacht. Besonders die Kollegen und auch Gerd Kroske haben mir beim Umstieg geholfen. Als Monika Schindler den Europäischen Filmpreis für Schnitt gewann, hatte Andreas Dresen eine tolle Laudatio gehalten und gesagt, dass damals ihr Lieblingsbefehl „Steuerung-Z“ gewesen sei. Und genau so ging es mir auch.

Der Angriff auf einen Passanten aus „Der Boxprinz“ erreichte Kultstatus im Internet.

Mit dem Regisseur Gerd Kroske hast du besonders viele Filme gemacht, ihr seid auch privat befreundet. Wann habt ihr zum ersten Mal zusammengearbeitet?
Mit Gerd habe ich zum ersten Mal bei dem Film „Leipzig im Herbst“ gearbeitet, im Jahr 1989. Er und Andreas Voigt haben zwischen dem 16. Oktober und dem 7. November die Massenproteste in Leipzig gefilmt und mit Demonstranten gesprochen. Schon am 24. November haben wir den fertigen Film bei der Dokfilmwoche in Leipzig gezeigt, wo er einen Spezialpreis gewann. Das bedeutete natürlich einen wahnsinnigen Zeitdruck. Meine Kollegin Manuela Bothe und ich haben in zwei Schneideräumen parallel buchstäblich Tag und Nacht daran gearbeitet. „Das ist unser Beitrag zur Wende“, haben wir uns damals gesagt.

Nun wart ihr ja alle Festangestellte beim DEFA Dokumentarfilm-Studio. Gab es dort keine Hürden, keine Bedenken, einen Film über die Proteste zu machen? Wie hast du die erlebt?
Eine Kundgebung am 7. Oktober in der Gethsemanekirche, am 40. Geburtstag der DDR, ist mir besonders im Gedächtnis. Das Gebäude war komplett von Stasi umstellt. Meine Tochter war mit ihren beiden Kindern dort und ich hatte große Angst, dass sie verhaftet werden. Bei dieser Demo konnte man erleben, wie Menschen, die dort protestieren, massenweise auf Lastwagen gestoßen und verhaftet wurden. Es gab darunter Gruppen von Demonstranten, die wie Punker aussahen und die am lautesten von allen schrien. Die wurden nicht verhaftet, sondern durften nachher einfach unter den Augen der Polizei gehen. Uns war sofort klar, dass das Claqueure waren, die die Menge anheizen sollten, um die Verhaftungen zu provozieren. Es war ein Schock für mich und meine Freunde, mit denen ich diese Vorgänge beobachtete.
Am nächsten Tag sind wir nach Neubrandenburg gefahren und haben dem stellvertretenden DEFA-Direktor Fritz Seidel unsere Erlebnisse geschildert, der uns eine Genehmigung für den Film gab. Ich glaube er und wir alle waren voller Optimismus in diesen Tagen. Wir waren uns sicher, dass die Dinge anders werden würden. Dass die sturen Holzköpfe, die da an der Regierung sitzen, merken, dass es so nicht weitergehen kann. Ich bin in dieser Zeit jede Woche mehrfach auf die Straße gegangen.

Volkspolizisten beim Interview: „1989 – Leipzig im Herbst“

Und plötzlich war die Mauer am 9. November offen, noch während ihr im Schneideraum für diesen Film gesessen habt. Wie ging es danach weiter bei euch?
Nach der Maueröffnung ging die Arbeit bei der DEFA erst mal normal weiter. Aber wir konnten einen Betriebsrat gründen und erhöhten die Gehälter. Denn wir ahnten, dass wir bald alle entlassen werden würden. Die Leute sollten beim Arbeitsamt später mehr Geld bekommen. Und so kam es dann auch. Die ganzen Scharlatane, die vorgaben, die DEFA kaufen zu wollen, lösten sich in Luft auf. Genauso wie Genschers Versprechen, dass es weitergehen würde. Alle haben ihre Jobs verloren, auch die Menschen im Studio Babelsberg. Allein bei uns, beim Dokumentarfilmstudio, verloren 300 Leute ihre Anstellung, 26 in der Schnittabteilung. Das war erst mal eine beängstigende Zeit. Alles war völlig unsicher und ich zum ersten Mal freischaffend. Aber ich hatte Glück.

All diese Dinge passierten in so unglaublich kurzer Zeit. Und in deinen Filmen ist Zeit und Zeitgeschehen immer wieder ganz zentral. Aber wie war das in deinem Berufsalltag, hattest du immer genug Zeit zum Schneiden?
Wenn uns das Projekt wichtig war, haben wir uns die Zeit genommen, indem wir einfach immer länger gearbeitet haben. Bei meinem ersten Langfilm „Flüstern und SCHREIEN“ mit Regisseur Dieter Schumann haben wir häufig auch an Wochenenden geschnitten. Der Film ist ein „Rockreport“ und gibt Einblicke in die Underground-Musikszene in der DDR. 1988 kam er in die Kinos und so viel alternative Musik hatte man noch nie in den DDR-Kinos sehen können, glaube ich.

Wie bist du damals bei euren Dokumentarfilmen an das Material herangegangen?
In der Regel habe ich das Material zuerst immer in voller Länge als stummes Muster auf der Leinwand gesehen. Dann ein zweites Mal am Schneidetisch mit dem angelegten Ton. Mit meinen Regisseuren habe ich dann alles noch einmal komplett geschaut, das dritte Mal bereits für mich. Erst dann begann der Montageprozess. Ich habe das als großen Vorteil erlebt, weil ich nun vertraut war mit den gefilmten Szenen. Bei der Arbeit mit analogem Material war das sehr wichtig, denn jeder einzelne Schnitt bedeutete ja einen physischen Arbeitsprozess. Man musste sich also sehr genau überlegen, was man tat. Natürlich war das Drehverhältnis damals auch nicht so hoch, 1:8 galt schon als viel. Aber auch beim digitalen Schnitt habe ich dieses ausgiebige Sichten des gesamten Materials beibehalten, ich fand es für meine Arbeit wichtig, mich darin auszukennen.

Interessanterweise beginnt „Flüstern & SCHREIEN” ja mit einem Outtake, Paul Landers kommt zur Tür heraus, will etwas sagen und vergeigt es, kommt wieder … Auch in anderen Filmen setzt du in markanten Momenten Material ein, das eigentlich ein Outtake ist. Das hast du vermutlich nicht in deiner Ausbildung zur Schnittmeisterin gelernt?
Ja, das ist doch ein schöner Anfang, finde ich. Ich hatte zuerst eine Ausbildung als Filmkopier-Facharbeiterin gemacht. Dort haben wir in zwei Jahren alles gelernt: von der Entwicklung über Kopierung, Lichtbestimmung, finale Prüfung und vieles mehr, einmal durch alle Abteilungen. Das war ein Beruf, den es nur in der DDR gab und um den uns viele Westler beneidet haben. Ich hab anschließend beim Fernsehen als Kopiererin gearbeitet und bin nach zwei Jahren zum Filmschnitt gekommen. Seit 1969 war ich bei der DEFA, von 1975 bis 1980 als selbstständig schneidende Assistentin und dann als Schnittmeisterin. Dafür habe ich im Fernstudium Filmschnitt und Dramaturgie neben der Arbeit belegt. In den 1970ern und 1980ern habe ich sehr viele kurze Reportagen und Beiträge montiert und über diese Arbeit einen freieren Zugang zum Material gewonnen.

Und du warst dabei auch für die Tongestaltung verantwortlich?
Wir haben Bild und Ton bearbeitet, Musiken angelegt und Geräusche bearbeitet. Obwohl die akustischen Ergebnisse dieser Jahre im Dokumentarfilm nicht besonders anspruchsvoll aus heutiger Perspektive klingen mögen, war die Arbeit ein komplizierter Vorgang. Es gab eine eigene Tonabteilung, in der jedes Geräusch gesucht, gefunden und dann im Schneideraum angelegt werden musste. In der Mischung haben wir erst den fertigen Film gesehen, rollenweise. Das war immer ein aufregender Moment, ob auch alles stimmte, was wir gemacht haben. Da hat der Digitalschnitt und die digitale Tongestaltung heute mit seinen beliebig vielen Spuren ganz andere Möglichkeiten und gestalterische Herausforderungen. Der Film „Kinder. Wie die Zeit vergeht“ von Thomas Heise hat zum Beispiel ein markantes Sounddesign, das mit der ersten Einstellung beginnt, die mit Vogelgezwitscher unterlegt ist. Das ist eine Tongestaltung, die gegen das Bild gesetzt ist, denn wir sehen Nachtaufnahmen einer Raffinerie. Für mich waren Geräusche und der Ton insgesamt immer sehr wichtig für die Filme. [13667]

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