"Meine Art, Filme zu machen, fordert dem Publikum mehr ab"
Interview mit Frederick Wiseman
von Jens Prausnitz,
2016 wurde Frederick Wiseman mit dem Ehren Oscar ausgezeichnet. Der US-Amerikanische Filmemacher und Regisseur begeisterte das Publikum bereits mit zahlreichen Dokumentationen über die verschiedensten Themen. Jens Prausnitz sprach für unsere Ausgabe 7-8/2018 mit ihm.
Kommen wir auf Ihr Team zu sprechen, Sie angeln den Ton dabei immer noch selbst?
Ja.
Also wie in einem Zwei-Mann-“Run-and-Gun”-Team. Nun, wir sind ein dreiköpfiges Team.
Als wir noch auf Film gedreht haben, hat die dritte Person die Magazine gewechselt und die Wechseloptiken getragen. Seit wir digital drehen, trägt die dritte Person die Objektive, wechselt die Speicherkarten und zieht gelegentlich die Schärfe.
Und holt den Kaffee.
Und kümmert sich um den Kaffee, richtig. Das ist eine tolle Art, einen Film zu drehen, und man ist sehr beweglich, kommt schnell überall hin.
Was mich wirklich fasziniert ist, dass niemand von den Gefilmten auf das Team reagiert.
Das erstaunt mich immer wieder, aber sie tun es wirklich nicht. So war es von Anfang an. Dabei gibt es immer wieder Sequenzen in einigen meiner Filme, in denen ich den Leuten nie zuvor begegnet bin. Ich meine, manchmal komme ich dazu, sie vorher um Erlaubnis zu fragen, und manchmal nicht – wie in einer meiner Lieblingssequenzen aus “Welfare” (1975), wo wir einfach einer schielenden Frau nachgelaufen sind. Ich dachte, es könnte gut für den Film sein, eine schielende Frau in ihm zu haben, und es wurde einer der lustigsten Sequenzen meiner Filme daraus.
Aber der ursprüngliche Impuls war einfach nur, einer schielenden Frau mit der Kamera zu folgen. Wir liefen dem Paar nach, während sie sich mit allerlei Problemen herumschlugen, von denen einige ziemlich lustig waren. Als das Gespräch mit ihrem Sozialarbeiter zu Ende war und sie gingen, bin ich ihnen nachgelaufen, um mir ihre Einwilligung zu holen, obwohl ich die damals nicht brauchte. Aber es hätte ihnen ohnehin nicht gleichgültiger sein können. Ich finde das außergewöhnlich, und würde das selbst niemandem erlauben. Vielleicht, weil ich zu viel weiß.
Und heute trägt jeder eine Kamera in seiner Tasche mit sich herum. Hat sich damit das Bewusstsein vom eigenen Bild verändert?
Seit zehn oder zwölf Jahren trägt jetzt jeder eine Kamera mit sich herum und ich drehe meine Filme immer noch im gleichen Stil. Ich glaube, es ist eine Mischung aus Gleichgültigkeit und Eitelkeit. Menschen mögen den Gedanken, dass man ausreichendes Interesse an ihnen hat, um sie mit der Kamera zu begleiten, sie fühlen sich geschmeichelt. Das spricht teilweise für Eitelkeit, zum Teil aber auch nicht. Was immer es auch ist, aber in meiner Erfahrung macht es keinen Unterschied, ob man heute dreht oder vor fünfzig Jahren.
Kommen wir noch einmal auf Ihren Schnittprozess zu sprechen.
Die Fragestellungen rund um den Schnitt interessieren mich sehr. Der Schnitt ist eine Verbindung aus sehr rationalen Prozessen und einem assoziativen oder nichtrationalen. Nicht irrational, sondern nicht-rational. Beim Schneiden habe ich gelernt, auf die Randgedanken in meinem Kopf zu hören. Man versucht, etwas hinzubekommen, man geht spazieren und plötzlich erscheint einem der Schnitt. Mir ist alles passiert: Ich habe Schnittprobleme schon überall gelöst, im Traum, unter der Dusche oder einfach nur beim Dasitzen.
Was man auch selten hört ist, dass Sie von jedem einzelnen Schnitt sagen können, warum er dort und nicht woanders ist. In manchem Filmen wirkt vieles oft nicht durchdacht.
Weil es das nicht ist. Wenn ich eine dramaturgische Struktur aufbaue, dann muss ich das tun. Innerhalb jeder Sequenz und auch dazwischen – ich meine, für mich ist das so offensichtlich, dass ich nicht weiß, wie man sonst etwas schneiden kann. Tut man das nicht, dann erhält man ja keine richtige Form, die eine Geschichte erzählt.
Für die ersten Schnittfassung lassen Sie 40 bis 50 Prozent des Rohmaterials beiseite liegen und beziehen es erst später mit ein, wenn Sie den dramaturgischen Bogen gefunden haben.
Weil es eine andere Bedeutung braucht, wenn es geschnitten ist. Das passiert mir bei jedem Film, dass Dinge für mich nicht funktionieren, bis ich etwas im Rohmaterial finde. Das macht es dann meistens zumindest besser. Oder Sequenzen, von denen ich aufgrund anderer Entscheidungen dachte, dass sie nichts taugen, werden wichtig, weil sie nützliche Informationen liefern, die vorher gefehlt haben. Mir erscheint das offensichtlich, aber ich habe auch kaum Kontakt zu anderen Editoren, weiß also gar nicht wie andere es machen.
Am Ende sind es doch immer sehr ähnliche Prozesse. Man sollte das Rohmaterial nie ungesehen links liegen lassen. Man muss sein Unterbewusstsein weiter damit füttern.
Ja, man muss es durchdenken, nachdenken und sich mit dem ganzen Material auseinandersetzen.
Sie haben sich doch sicher einen Workflow zugelegt, am Steenbeck …
Ich bedauere es so sehr, nicht mehr an einem Steenbeck arbeiten zu können!
Haben Sie Ihren Arbeitsstil denn von dort ins digitale Umfeld hinüberretten können?
Die Organisation am AVID in Ordnern ist nicht so anders, die Arbeit ist der am Steenbeck sehr ähnlich. Aber es wird viel Mist über Digitalschnitt erzählt. Zum Beispiel war da eine New Yorker Kritikerin vor ein paar Jahren, der einer meiner Filme nicht gefiel, und die glaubte, er wäre besser geworden, wenn ich ihn am AVID geschnitten hätte. Ich habe darüber gelacht, weil es so lächerlich, so ignorant ist. Als ob es die Maschine wäre, die die Entscheidungen trifft. Ich meine, sie hat alles Recht der Welt meinen Film nicht zu mögen, aber als Kritikerin dürfte sie nicht so einfältig über den Schnittprozess denken.
Wie dem auch sei – einige Leute glauben, man hätte mehr Wahlmöglichkeiten, aber das ist absurd, die Entscheidungen bleiben exakt die gleichen, sie müssen einem erst einmal einfallen. Der Maschine fallen sie nicht von alleine ein – aber dir! Das ist doch alles offensichtlich, aber anscheinend nicht für jeden.
Auch das Publikum muss aufmerksam und konzentriert bei der Sache sein.
Meine Art, Filme zu machen, fordert dem Publikum mehr ab, weil sie nicht alles auf dem Serviertablett aufgetischt bekommen. Sie sind romanhafter in ihrer Herangehensweise, nicht didaktisch oder journalistisch.
Haben Sie sich schon für ein neues Thema entschieden?
Das habe ich, möchte aber nicht darüber reden, darum lasse ich es.
Meine Zeit ist jetzt um.
Nicht meinetwegen, wir können gerne weitermachen, bis sie mir ein Pflaster bringen. Es liegt ganz bei dir, ich verblute ja nicht.
[Es klopft an der Tür, das Pflaster wird gebracht.]