Hier also der zweite Teil unseres Berichts über die Dreharbeiten zur Dokumentation “24 Stunden Bayern” aus der Ausgabe 09/2016. In dem heutigen Teil beginnen die Dreharbeiten und damit auch die Herausforderungen, denen sich die Teams stellen müssen. Heute am 05. Juni 2017 läuft den ganzen Tag auf dem Bayerischen Rundfunk diese Dokumentation.
Erste Motive und Annäherungen
Dann brach der Vordrehtag an, 2. Juni 2016. Namche Okon bildete zusammen mit seinem Aufnahmeleiter Johannes Kotzke Team 104. Beide waren zuständig für Impressionen aus München, Tagdreh. Die Shotlist beinhaltete bereits am Vordrehtag den Sonnenaufgang, dann den allmorgendlichen Stau auf dem Mittleren Ring. Ein Zeitraffer in der Art von „Koyaanisqatsi“ war nicht gewünscht, alles sollte so realistisch und authentisch wie möglich abgebildet werden, auch im zeitlichen Rahmen.
Auch der Königsplatz war verstellt, hier wurde ein Konzert aufgebaut. Als der Hofgarten und die Staatskanzlei drankamen, regnete es. Namche Okon und sein Aufnahmeleiter waren daher froh, als sie in der alten Pinakothek drehen durften. Die Herausforderung: Die Interaktion zwischen einigen der alten Meister und den Besuchern, die von den Blicken der gemalten Personen verfolgt werden, einzufangen. Die Schwierigkeit: Johannes Kotzke musste fortwährend Unmengen von wildfremden Menschen nachlaufen und ihnen erklären, warum sie jetzt und hier für einen Film eine Rechteabtretung unterschreiben sollen.
Zu gleicher Zeit befand sich Nikolai Ritzkowsky mit seinem Aufnahmeleiter Carlo Sprinz, Team 102, am Walchenseekraftwerk. Ebenfalls für Impressionen. Tags zuvor waren die beiden mit einer der letzten Bahnen auf die nahgelegene, 2.962 Meter hohe Zugspitze gefahren und hatten dort übernachtet. Ihr Ziel war es, am Vordrehtag den Sonnenaufgang über dem höchsten Punkt Deutschlands einzufangen. Leider hatte das Wetter nicht mitgespielt und so wurde das Team kurzerhand wieder ins Tal geschickt.
Diese Nacht sollten sie in Garmisch verbringen und dann zum eigentlichen Drehtag wieder auf den Berg hinauf. Eine völlig andere Herangehensweise an den Drehtag hatte die Berliner Kamerafrau und Regisseurin Susanna Salonen: Ihrem Team 51 war es zugefallen, zusammen mit dem Tonmann Oliver Göbel und der Aufnahmeleiterin Pia Mohaupt den Tag einer afghanischen Familie in Oettingen abzubilden. Sie nutzten den Vordrehtag zum Abbau von Scheu und Skepsis, die auch die vier Kinder, zwei Jungen und zwei Mädchen im Alter von wenigen Monaten bis acht Jahren, bremsten. Die Kamerafrau: „Das schönste Bild der Welt nützt nichts, wenn man spürt, dass der Mensch im Bild gestresst ist. Den Stress spürt jeder Zuschauer sofort, denn wir alle lesen täglich Gefühle und Stimmungslagen aus Gesichtern ab. Und ein schönes Bild mit einem gestressten Menschen sendet immer eine gemischte Botschaft.“ Das Team besuchte die Familie zuhause, man sprach ein wenig über den Dreh und das Leben, und trank gemeinsam Tee. Das Equipment wurde ausgepackt und vorgeführt, die Kinder wie auch die Eltern durften durch die Kamera gucken und den Kopfhörer aufsetzen, um durchs Mikrofon zu hören. Dann wurde gemeinsam gegessen, afghanisch, und noch am Abend war das Eis gebrochen. „Im gemeinsamen Essen steckt immer ein archaisches Moment von Freundschaft“, resümiert Susanna Salonen schmunzelnd die Drehvorbereitung.
Die Zugspitze: Eine Baustelle
Und dann kam der Tag, den es auf Film zu bannen galt, der 3. Juni. Regisseur Volker Heise saß in der Kameraschleuse und hoffte, dass alles klappt, dass es keine Unfälle gibt und dass schöne Bilder entstehen, die dieser Tag bringen wird. Die Telefone liegen jedenfalls bereit. Nikolai Ritzkowsky erlebte gleich zu Beginn des Tages eine herbe Enttäuschung, als er von Garmisch aus in die Berge blickte: Das Morgenlicht glänzte seit 5:24 Uhr warm auf den Gipfeln und Felswänden des Wettersteinmassivs, doch die erste Bahn fuhr erst um acht. Heute wäre das Wetter ideal gewesen, um den Sonnenaufgang zu filmen. Keine Chance. Doch es gab ein zweites Team am Berg, und dieses hatte oben übernachtet. Mit etwas Glück wurde der Sonnenaufgang also erwischt. Also nahm Team 102 selbst die Seilbahn, um die Aspekte Bayerns auf höchster Höhe einzufangen.
Den Sonnenaufgang filmte auch Team 104, vom Olympiaturm aus. Auch hier ist die Organisation zu loben: schon um halb vier Uhr morgens wurde für Namche Okon und Johannes Kotzke der Münchner Aussichtsturm geöffnet. Susanna Salonens Team 51 hat auch gleich in der Früh eine kleine Hürde zu überwinden: Der Tonmann darf der afghanischen Protagonistin, einer gläubigen Muslimin, nicht das Mikrofon anstecken, und der Ehemann war schon zur Arbeit gegangen. Von (Kamera-)Frau zu Frau geht das jedoch problemlos, daher kann der Dreh mit minimaler Verzögerung beginnen. Auch die Kinder haben sich an die Kamera gewöhnt, das ist das Wichtigste. Auf der Zugspitze kämpft derweil Nikolai Ritzkowsky damit, dass er unter all den Touristen, der Großteil davon aus Asien, kaum in der Lage ist, Impressionen zu finden, die auf Bayern hindeuten. Lediglich ein einsamer Skitourengeher wird von der Zahnradbahn ausgespuckt, doch der macht sich sogleich in Richtung Schneefernerkopf auf.
Also zurück vom Zugspitzplatt auf die Bergstation. Die Zugspitze ist laut Nikolai Ritzkowsky „der hässlichste Berg Bayerns, komplett kaputt gebaut, es schaut furchtbar aus dort oben. Auf dem Gipfel gibt’s nur Beton, und eine Riesenbaustelle.“ Derzeit überragen zwei Kräne das Gipfelkreuz. Volker Heise weiß das, er will auch diese Bilder. Kein Schmankerlbayern also, sagt Nikolai Ritzkowsky. Der Himmel reißt etwas auf, endlich Gelegenheit für ein paar sonnige Bilder. Vor dem Münchner Haus, die seinerzeit mit der modernen Bergstation umbaute alte Gipfelhütte der Zugspitze, sitzen ein paar Touristen in der Sonne. Dann schlägt das Wetter um, es graupelt. Binnen fünf Minuten wandelt sich die Biergarten-Idylle in eine garstige Bergsommerstimmung. Die Gäste flüchten oder wollen den Wetterumschwung nicht wahrhaben, der Hüttenwirt baut die Biertische ab, die Leute von der Baustelle beginnen mit dem Schneeräumen. Und Nikolai Ritzkowsky filmt, filmt, filmt – als gäbe es kein Morgen.
Carlo Sprinz hält das zweite Objektiv bereit. Er arbeitet schon länger mit diesem Kameramann zusammen, und am Berg müssen solche Dinge besonders schnell gehen. Und: Bei diesem Projekt gibt es tatsächlich kein Morgen.
Echte Momente
Während Namche Okon mit seinem Team 104 nach zwei langen Tagen von der Nachtschicht abgelöst wird, die letzte Einstellung war der allabendliche Stau, und als einer der ersten zur Materialschleuse zurückkehrt, wo die Data Wrangler nun über dem Ingest schwitzen, erlebt Susanna Salonen in Oettingen mit, wie die afghanische Familie in den Nachrichten von einem gekenterten Flüchtlingsboot mit Todesopfern erfährt. Als der Ehemann „kentern“ nachgeschlagen hat, erfasst betretenes Schweigen die Familie.
Bei der eigenen Flucht vor einigen Jahren musste nachts ein Fluss in der Türkei überquert werden, auf einem alten Schlauchboot. Die Ehefrau mit einem Neugeborenen im Arm und einem kleinen Kind von drei Jahren bei sich, und das, ohne je Schwimmen gelernt zu haben. Damals haben sie es geschafft. Diese Erfahrung hat sie tief geprägt und daher Schweigen.
Auf der Zugspitze war schon im Vorfeld klar, dass das Team noch eine weitere Nacht bleiben müssen würde. Die letzte Bahn ins Tal fährt um 16:45 Uhr, doch der Sonnenuntergang ist erst um 21:07 Uhr. Als die Touristen weg sind, kehrt leider keine Ruhe ein, denn auf der Baustelle wird noch bis 19 Uhr gearbeitet. Die Arbeiter schlafen in der österreichischen Bergstation direkt nebenan. Aber Team 102 wird am späteren Abend im Münchner Haus dann doch noch fündig in Sachen Bayern: Der Seniorwirt, ein Urbayer, und ein paar seiner Partenkirchner Freunde sitzen beisammen und musizieren, Gitarre, Zither und Gesang. Es darf schließlich doch gefilmt werden, „wenn es schon ein Dokument der Zeitgeschichte ist“, und ein, zwei „Schnapserl“ gibt es auch noch, bevor alle schließlich zur Hüttenruhe auf die harten Matratzenlager fallen.
33 Tage Material
Bei Volker Heise, Zero One und Concept AV geht die Arbeit nun erst richtig los. In einem Jahr ist Ausstrahlung, am 3. Juni 2017. Die Handlungen im fertigen Film sollen weitgehend zur selben Uhrzeit drankommen, zu denen sie auch gedreht wurden. Ein komplexer Schnitt erwartet das Team. Auch gänzlich unerwartete Hürden spielen dabei eine ganz elementare Rolle, wie Stefan Engelkamp von Concept AV in Berlin berichtet, wo das Mammutprojekt derzeit geschnitten wird: Es musste zum Beispiel in älteren Formaten mit geringer Datenrate gedreht werden, damit kleinere Datenmengen anfallen, weil einfach nicht genug Speicherkarten aufzutreiben waren, um alle Teams gleichzeitig ausstatten zu können. Dennoch lagert nun eine fast dreistellige Anzahl von frisch gedrehten Terabytes auf den Servern in Berlin und wartet auf die erste Sichtung.
Die Materialmenge ist enorm. Die um die 800 Stunden Material ergeben ein stolzes Drehverhältnis von 1:33, also 33 Tage. Daher schneiden drei Editoren die einzelnen Geschichten zunächst grob vor. Erst dann wird verfeinert, nach und nach, bis zur Fertigstellung. Volker Heise hat schon ins Material geguckt und ist hochzufrieden. Warum er denn nun doch nicht aufgehört hat nach „24h Berlin“? „Bisher war es jedes Mal so, dass dasProjekt eine Erweiterung erfahren hat. Berlin war eine Stadt, Jerusalem eine komplett andere inhaltliche Herausforderung, weil es eine umkämpfte Stadt ist, und Bayern ist ein ganzes Bundesland. Für mich ist wichtig: Wie kann ich das Format erweitern? Ist da etwas drin, was spannend sein kann für uns?“ Man darf also gespannt sein, was Heise als nächstes ins Auge fassen wird. Vielleicht Irland? Das ist immerhin eine ganze Insel, mystisch und musikalisch, und umspült vom weiten, blauen Meer.