Filmemacher Peter Wingert realisiert Solo-Dreh mit Trauma-Opfer
Die Wucht des Ortes
von Uwe Agnes,
Peter Wingert begann seine journalistische Karriere im Print-Bereich. Von dort fand er seinen Weg zum Bewegtbild. Er hat uns in der Ausgabe 9.2024 geschildert, warum er im Ein-Mann-Team pro bono das Porträt einer traumatisierten Geflüchteten drehte und an welche technischen und persönlichen Grenzen er dabei stieß.
Eine Dokumentation, bei der Protagonistin und Auftraggeberin identisch sind, gehört im Filmgeschäft sicherlich eher zu den Ausnahmen, erst recht, wenn das Projekt auf Pro-bono-Basis ablaufen soll. Doch in genau dieser Konstellation fand sich der Filmemacher Peter Wingert wieder, als er im Anschluss an einer Buchvorstellung über den Genozid an den Jesiden 2014 mit einer Teilnehmerin sprach. Hakeema Taha war aus dem Nordirak geflohen, nachdem ihre Familie in ihrem Heimatdorf Kocho bei dem Genozid an den Jesiden 2014 beinahe vollständig umgebracht worden war. Ob Wingert sich vorstellen könne, einen Film über sie und ihr Schicksal zu machen, so ihre Frage zwei Wochen nach dem ersten Zusammentreffen. Sie wollte als Zeugin darüber berichten, was damals geschehen sei. „Ich habe sofort zugesagt!“ erinnert sich Peter Wingert. „Wann hat man als Dokumentarfilmer einmal die Situation, dass eine Protagonistin die Initiative ergreift, noch dazu bei so einem sensiblen Thema. Es gab natürlich niemanden, der dieses Projekt finanzieren würde, deshalb habe ich angeboten, den Film ohne Bezahlung zu realisieren. Wir mussten nur sehen, dass die Reisekosten für den Dreh im Irak gedeckt wären, ansonsten ist bei dieser Produktion kein Geld geflossen.“
Vom Wort zum Bild
Dass Peter Wingert bei einem so ungewöhnlichen Vorschlag direkt mit an Bord war, erschließt sich vielleicht auch aus seinem beruflichen und journalistischen Werdegang. Während seines Studiums der Theologie und Geschichte absolvierte er ein Volontariat bei einer Lokalzeitung in Sindelfingen und organisierte sich danach Hospitanzen unter anderem beim „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt“ in Hamburg. Danach wechselte er das Medium und arbeitete erst beim SDR-Hörfunk in Stuttgart und danach als TV-Autor für ARD-Sendeanstalten.
„Das hatte vor allem finanzielle Gründe“, erläutert Wingert. „Für eine halbe Seite beim Sonntagsblatt habe ich zwischen 150 und 200 DM bekommen, 300 DM für einen Fünf-Minuten-Beitrag im Hörfunk und 1.500 DM für einen Dreiminüter beim Fernsehen. Als Familienvater mit 2 kleinen Kindern war mir schnell klar, wo die wirtschaftliche Präferenz liegt. Es hat mir aber auch inhaltlich sehr zugesagt, diese Kombination von Text, Ton und Bild zu gestalten. Da war die Entwicklung vom Schreiben über den Hörfunk zum Fernsehen nur konsequent.“
Den Einstieg in den TV-Journalismus fand Wingert über Kontakte seiner Frau, einer US-Amerikanerin, die er in einem Flüchtlingslager in Honduras kennenlernte, und realisierte für CBS einen Film über die Situation von guatemaltekischen Flüchtlingen in Mexiko. Danach machte Wingert etliche Dokumentationen für die ARD realisiert und fand seine Themen in der kirchlichen Entwicklungspolitik.
Bei der Arbeit mit den unterschiedlichsten Teams sah Peter Wingert genau hin und erweiterte so seinen gestalterischen Horizont. „Ich hab zehn Jahre lang mit ARD-Teams gedreht und da waren zum Teil gute Kameraleute dabei, die wirklich gute Arbeit abgeliefert haben. Da sieht man natürlich auch, wie sie arbeiten und vor allem, wie sie sich vorbereiten und was sie vor Drehbeginn wissen wollen.“
Solo unterwegs
Bei einem unbezahlten Projekt mit schwierigen Rahmenbedingungen lag nahe, dass Peter Wingert viele Aspekte der Produktion allein bewältigen müsste: Autorenschaft, Kamera, Assistenz und Schnitt in Personalunion. Hier zahlten sich nun die Jahre in den Schneideräumen der ARD aus. Jeder Featureschnitt mit erfahrenen Editorinnen und eher selten Editoren war eine perfekte Gelegenheit zu lernen.
Doch gerade in der Postproduktion wurden dem Filmemacher die Nachteile bewusst, die das ganz auf sich gestellte Arbeiten mit sich bringt. „Ich bin dann immer nur eine Person und habe nur ein Paar Augen und Ohren“, sagt er dazu. „Jemand anders könnte da einfach Gedanken und Ideen haben, auf die ich ganz alleine vielleicht gar nicht komme. Aber es funktioniert auch so einigermaßen und ich finde, dass für mich persönlich die Vorteile gegenüber den Nachteilen überwiegen.“
Die Arbeit am Schnittplatz hat den Editor Peter Wingert aber auch für die Bilder sensibilisiert, die der Kameramann Peter Wingert liefern muss. „Ich sehe natürlich, welche Schnitte funktionieren und woher die Intensität kommt. Das gibt mir dann wieder eine Rückkopplung beim Drehen. Weil ich beim Drehen den Schnitt schon mitbedenke, weiß ich, dass manche Einstellungen einfach intensiver sind – und ich denke daran, dann auch wirklich alle Bilder zu drehen, die ich im Film brauche.“
Bei der Wahl seines Equipments achtete der Filmemacher vor dem Hintergrund des Drehs im Ein-Mann-Team auf hohe technische Qualität und Zuverlässigkeit gepaart mit möglichst geringem Bedienaufwand. Er entschied sich für die Sony FX6, die er mit Autofokus-Objektiven desselben Herstellers kombinierte: ein 35 mm sowie ein 85 mm Prime sowie zwei Zooms mit 24- 105 und 70-300 mm Brennweite. Ergänzt wurde das Setup mit 21-, 35- und 50-mm-Voigtländer-Festbrennweiten.
Trotzdem ist realistisch betrachtet ein Solo-Dreh ganz auf sich allein gestellt nicht jedermanns Sache und in vielen Fällen alles andere als optimal. „Inzwischen geht es mir damit ganz gut“, berichtet Peter Wingert von seinen Erfahrungen. „Nach 30 Jahren Praxis weiß ich, was zu tun ist. Der Schlüssel ist wirklich die Vorbereitung! Dafür verwende ich extrem viel Zeit. Das fängt an bei der Technik, ob das nun das Putzen der Optiken ist oder ob man jedes einzelne Kabel noch einmal durchtestet. Außerdem bereite ich mich inhaltlich sehr genau vor. Was sind die Bilder, die ich haben will, woher bekomme ich sie und wie lange brauche ich dafür? Zusätzlich bereite ich auch die Interviews genau vor. Insgesamt geht extrem viel Zeit in die Vorbereitung. Da ich meine Kamera und mein Equipment inzwischen ordentlich kenne, kann ich mich darauf verlassen und dann bekomme ich den Dreh auch unter Druck hin.“
Die negativen Seiten dieses Minimal-Setups nimmt der Filmemacher in Kauf. Denn wenn bei aller Vorbereitung schnell auf ungeplante Umstände reagiert werden muss, ist man ganz allein schnell am Rand seiner Möglichkeiten angelangt. „Mal schnell ein Stativ aus dem Auto zu holen, von dem man dachte, es sei nicht nötig, geht dann eben nicht.“
„Die Zeugin“
Doch der Dreh im Ein-Mann-Team hat auch einen unschlagbaren Vorteil: Am Set sind so wenige Personen wie nur irgend möglich anwesend . Das ist besonders bei schwierigen und sensiblen Themen wie im Fall von Peter Wingerts Protagonistin von Bedeutung. Denn der Film kreiste ja um die Frage, wie die Protagonistin ihr Trauma in ihr Leben integrieren kann – und je weniger Personen am Set involviert sind, desto einfacher sind behutsame Drehumstände zu realisieren.
Die größte Herausforderung sowohl für den Filmemacher als auch die Protagonistin war jedoch der Dreh in ihrem Heimatdorf Kocho. „Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon fast ein Jahr mit ihr gedreht und einige Interviews gemacht“, erklärt Wingert. „Dabei habe ich sie immer sehr kontrolliert, überlegt und gefasst erlebt, selbst wenn sie davon erzählt hat, wie ihre halbe Familie umgebracht worden ist. Von daher hatte ich den Eindruck, sie ist in der Lage, darüber zu sprechen.“ Diese Beobachtung traf sicherlich in Deutschland zu, aber am Ort der Gräueltaten in Kocho stellte sich die Situation völlig anders dar. „Ich habe schnell gemerkt, dass die Nähe zu diesem Ort wie eine Schlinge war, die sich um ihren Hals legt und langsam zuzieht.“
Am Ort des Geschehens
Die Lage war also angespannt und schwierig. Peter Wingert entschied sich dazu, die Bedürfnisse seiner Protagonistin an erste Stelle zu setzen und den Ablauf der Dreharbeiten von ihr bestimmen zu lassen. Der Filmemacher hatte im Vorfeld mit ihrem Traumatherapeuten gesprochen und aus dessen Sicht grünes Licht für den Dreh bekommen. „Der hatte mir gesagt, sie hätte ihre Geschichte verarbeitet, ich bräuchte mir keine Sorgen zu machen. Er hat mir auch einen entscheidenden Hinweis mitgegeben: ,Sagen Sie nie, ich weiß, wie Sie sich jetzt fühlen. Das können Sie als Außenstehender nicht, egal wie genau sie die Umstände kennen.‘ Und dann sind wir an einem späten Nachmittag, als die Sonne schon fast unterging, in ihr Dorf gefahren. Da habe ich sie zum ersten Mal ganz anders erlebt – und ich war absolut nicht darauf vorbereitet, dass sie völlig zusammenbrach, als wir in der Schule ankamen, wo die Bilder von ihrer ermordeten Familie hängen.“
Diese Emotionen, so Wingert, seien zweifellos durch den Ort ausgelöst worden, „in einer Wucht und Gewalt, die ich nie erwartet hätte. Darauf war ich nicht gefasst.“ Instinktiv entschied er sich dafür, mit der Kamera eine physische Distanz einzunehmen. „Mir war aber auch klar: Ich bin nicht hier, um zu trösten, sondern um Bilder zu machen. Das hört sich jetzt vielleicht etwas hart an, doch meine Rolle war definiert. Durch diesen faktischen Abstand habe ich mich auch ein Stück weit vor dieser Wucht der Emotionen schützen können. Ich denke, das war die richtige Entscheidung. Ich bin ja auch kein Kameraroboter. Insofern war das für mich richtig und sinnvoll und auch im Nachhinein würde ich nichts anders machen.“
Gelernt hat er jedoch, den Einfluss der Location nie wieder zu unterschätzen. „Orte, also Originalschauplätze, können einen enormen Einfluss auf Protagonisten haben. Das habe ich in Kocho extrem vorgeführt bekommen – und es hilft aus meiner Sicht ungemein, wenn man sich in Vorbereitung fragt: ,Bin ich bereit, mich auf die Wucht des Ortes einzulassen? Gab es vielleicht in meinem Leben schmerzhafte und schwierige Situationen, die bei so einem Dreh wieder hochkommen könnten? Könnte ich dann damit umgehen?“
Peter Wingert war drei Jahrzehnte in den Krisengebieten der Welt unterwegs, doch der Dreh in Kocho hat ihn nachhaltig beeindruckt. „Das war für mich wirklich die bislang schwierigste Situation“, sagt er. „Ich war im Krieg in Afghanistan, im Bürgerkrieg in Sierra Leone und nach dem Tsunami in Indonesien. Ich habe wirklich viel gesehen. Aber dieser abgrundtiefe Schmerz der Frau hat mich schon ziemlich mitgenommen. So intensiv habe ich das noch nie erlebt. Mir kamen selbst ein halbes Jahr danach beim Schnitt noch die Tränen.“ [15477]
Der fertige Film trägt den Titel „Die Zeugin“ und ist72 Minuten lang. Er wird in Abstimmung mit der Protagonistin auf Veranstaltungen gezeigt, die über das Schicksal der Jesiden informieren.