Wie die Bauten für seine Filme und die sich fortentwickelnde Technik seine Arbeit prägen, schilderte Filmemacher und DoP Philip Gröning im Interview für unser Heft 10/2018.
Wenn sie sagen, die Kameraarbeit entsteht am Set, dann haben Sie sich aber sicher trotzdem schon im Vorhinein überlegt, welches visuelle Konzept Sie verfolgen wollen?
Das ist ein widersprüchlicher und komplexer Prozess. Sowohl für „Die Frau des Polizisten“ als auch für „Mein Bruder heißt Robert …“ habe ich die kompletten Drehorte bauen lassen, und zwar so, dass bestimmte Kameraperspektiven ganz klar als gestaffelte Tiefen möglich sind. Beim Bauen wird schon ganz klar darauf geachtet, wo die Scheinwerfer untergebracht werden können und wie man ein vernünftiges Licht hinbekommt. Bei „Die Frau des Polizisten“ haben wir alle Decken herausgenommen, in allen Räumen eines Hauses, das wir übernommen haben, um von oben wie im Theater oder Studio das Licht setzen zu können.
Bei „Robert“ haben wir von vornherein in die Tankstelle ganz komplexe Lichtsituationen eingebaut. Wir haben auch ganz viele Öffnungen geschaffen. Hinter jedem Schlüsselkasten ist eine Öffnung in den Nebenraum, damit wir mit längeren Perspektiven arbeiten können. Insofern sind die Bilder schon vorher genau festgelegt. Es ist aber nicht fest- gelegt, welchen Blick ich in welchem Moment nutzen werde.
Wenn viele Perspektiven schon festgelegt sind – ist das der Grund, warum in „Robert“ fast alles vom Stativ gedreht worden ist?
Ich arbeite ja bei jedem Film verschieden. „Die Terroristen“ war ausschließlich Handkamera, niemals auf dem Stativ. „L’Amour, l’argent, l’amour“ war ebenfalls Handkamera, außer für die Zeitraffer. Trotzdem hat bei „L’Amour“ Peter Menne viele von den Räumen gebaut, zum Beispiel in ein Hochhaus hinein, weil ich ziemlich genau wusste, wie die Perspektiven in ihren Staffelungen aussehen müssen – obwohl es dann eine Handkamera war, die Sophie Maintigneux und ich zusammen gemacht haben.
Bei mir ist es eigentlich so: Meine Vorstellung von den Räumen, in denen die Schauspieler agieren sollen, ist supergenau. Deshalb müssen sie oft gebaut werden. Meine Vorstellungen von der Kamera … wenn ich die Kamera in der Hand habe, dann weiß ich einfach sofort, was das richtige Bild ist. Deshalb war es naheliegend, irgendwann selbst den DoP zu machen. Das fing an, als ich mit Anthony Dod Mantle „Die Terroristen“ gedreht habe. Es gab Momente, wo Anthony einfach erschöpft war und ich gesagt habe, „Jetzt mache ich mal die Kamera!“ Anthony saß dann da und fand gut, was ich da drehte: „Warum machst du nicht selber die Kamera?“
Sind Sie so zur Kamera gekommen?
Ich hatte schon immer fotografiert. Bei meinem ersten Film „Sommer“ gibt es viele Teile der Kameraarbeit, die ich sel- ber gemacht habe. Für mich ist es ist eine sexy Sache, eine Kamera in der Hand zu halten – und einfach zu schauen. Dieser Vorgang, wirklich zu schauen, ist toll.
Schauen ist ja eine Sache, aber selber Bilder zu finden, eine andere – gerade für die zum Teil hochkomplexen philosophischen Gedankengänge bei „Mein Bruder Robert …“ War das ein schwieriger Prozess?
Das war der Grund, warum der Schnitt so lange gedauert hat. Es ist sehr schwierig gewesen, den Film in eine Balance zu bringen, wo du einerseits zuhörst, was gesprochen wird, andererseits die Figuren nicht nur als Stichwortgeber erlebst und dritterseits wirklich ein Erleben der Natur hast. Ich habe ja viel mit fast makroartigen Großaufnahmen gearbeitet, und dann wieder mit riesigen Totalen. Da hat es sich natürlich gelohnt , dass der Szenenbildner Alexander Manasse und ich vorher ganz genau überlegt haben, wohin wir in der Landschaft welche Strukturelemente stellen. Die Tankstelle ist hingestellt, der Baum ist hingestellt, die Scheune im Hintergrund – das ist alles hingestellt …
… aber nicht die Windräder? Nein, die drei Windräder waren da! Das fand ich auch toll, weil es eine Situation wie auf Golgatha mit den drei Kreuzen war. Drei ist optisch ja sowieso eine tolle Zahl, und mit diesen drei Windrädern war sofort ein Ort geschaffen. Aber an diesem Ort, mit den Bergen im Hintergrund, diesen großen Windräder und der Menschenleere – da war klar, da müssen wir wirklich große Bilder finden. Das ist so, als würde man sich eine große Bühne ins Theater bauen lassen. Dann muss man die auch füllen. Da kannst du nicht plötzlich sagen, in den Innenräumen sind die Bilder immer so ein bisschen bescheuert. Darüber haben wir viel nachgedacht, wie wir dieses Gefühl hinbekommen, dass da in der Tankstelle eigentlich immer eine strahlende Sonne ist, die von allen möglichen Seiten hereinscheint. Mit diesem Ort war ein bestimmter Standard der Bilder gesetzt – und das einzuhalten war ganz schön schwierig.
Wie wichtig Ihnen Technik ist, haben wir ja schon mit den zwölf Spuren für die „Stille“ angeschnitten, aber vielleicht gibt es da noch mehr zu sagen.
Das ist ein superspannendes Thema! Technik ist enorm wichtig. Ich bin ein wahnsinnig technischer DoP und Regisseur und beschäftige mich sehr damit, welche Optiken was leisten können. Oder wie man mit einer ganz kleinen Kamera eine Bildqualität hinbekommt, die man gar nicht mehr unterscheiden kann von dem, was vielleicht eine RED Epic leistet. Aber dabei geht es auch um technische Nebenaspekte. Wenn man zum Beispiel einen Film dreht, der nur in einer Wiese spielt, dann ist es natürlich ein Albtraum, wenn jedes Teammitglied Fußabdrücke in dieser Wiese hinterlässt! Also haben wir leichte Alu-Stege bauen lassen, 120 Meter insgesamt, die wir einfach aufstellen konnten. Die waren etwa einen halben Meter hoch, so dass Team und Equipment durch das Feld über diese Stege bewegt werden konnten, die man nachher wieder entfernen konnte – und die Wiese war noch intakt! Ich finde, Technik und die Beherrschung der Technik ist irrsinnig wichtig. Zum Beispiel: wenn sie in „Robert …“ zu diesen roten Radioantennen gehen, ist das eine Nachtaufnahme, die mit einer einzigen LED-Taschenlampe beleuchtet ist. Komplett. Das hat ganz viel damit zu tun, wo wir jetzt technisch hingekommen sind. Wie empfindlich sind inzwischen die Kameras? Es hat aber auch damit zu tun, über Licht nachzudenken. Woran erkenne ich Nacht? Daran, dass Gegenstände nachts keinen direkten Schatten werfen. Außer bei Mond, aber das ist etwas kitschig und auch selten. Also muss das Licht direkt aus der Kamera kommen. Alles andere funktioniert für mich nicht als Nacht. Insofern ist die Kameraarbeit eine sehr technische Arbeit.
Wo Sie von den Stegen erzählen: Es durfte sich ja auch sonst während der Drehzeit in der Landschaft nichts ändern, weil der Film an nur einem Wochenende spielt.
Genau. Deshalb haben wir erst am 10. August mit dem Dreh begonnen, weil dann schon die meisten Felder im Hintergrund abgeerntet waren. Ansonsten hatten wir zehn Hektar Felder gepachtet und diese Felder mit einer bestimmten Technik bepflanzt, die auch von den Saatgutkonzernen genutzt wird, wenn sie Reklamefotos machen wollen. Dabei werden ganz niedrig Schnüre über den Boden gespannt, damit das Getreide nicht vom Wind heruntergedrückt wird. An einem bestimmten Punkt, als das Getreide anfing, die Farbe zu stark zu verändern, haben wir hektarweise die stehengebliebenen Getreideflächen nachgefärbt. Das waren organische Pigmente, die mit großen landwirtschaftlichen Maschinen auf das Getreide gesprüht wurden, damit die Farbigkeit des Films gleich blieb, obwohl wir zweieinhalb Monate lang gedreht haben. Das ist ein Riesenaufwand gewesen, eigentlich eine Mischung aus Regie, Ausstattung und Kamera, so dass man glaubt, es ist nur ein einziges Wochenende. Das finde ich das Spannende an der Kameraarbeit: das Nachdenken über diese unendliche Menge an Details, an denen ein Projekt gelingen oder scheitern kann.
Bestimmte Dinge werden also für Sie erst möglich durch die Technik, die sich fortentwickelt.
Was ich als Kameramann eine große Befreiung in der Gegenwart finde, ist sehr unkompliziert mit mehreren Kameras zu drehen. Das setzt sich ja radikal durch, dass man anfängt, mit mehreren Kameras zu drehen. Damit lässt sich eine Lebendigkeit erreichen, wenn ich eine Szene habe, die sich durchspielen lässt, und in mehreren Perspektiven vernünftig und schlau aufgelöst habe. Dann dreht man das mit vier Kameras und damit habe ich es auch! Das ist eine wahnsinnige Erleichterung am Drehort. Mit nur einer Kamera verliert man so viel an organischer Lebendigkeit und an Intensität am Drehort. Dreht man aber mit zwei, drei oder sogar vier Kameras, dann wissen die Schauspieler: wir spielen es jetzt und dann ist es auch da! Dann brauchen wir nicht mehr viel zu wiederholen, wir haben schon die Großaufnahmen, wir haben schon die Profilaufnahmen – das alles ist schon da.
Und man spart Zeit.
Es spart Zeit, es erzeugt Freiheit. Die Schauspieler sind das Wichtigste. Die Bilder entstehen um die Schauspieler herum. Ich würde nie einem Schauspieler sagen: „Komm bitte exakt auf diese Markierung!“ Dann kann er nicht mehr spielen. Gerade mit mehreren Kameras kann ich Konstellationen bauen, so dass eine Szene auch dann funktioniert, wenn der Schauspieler mal einen Meter danebensteht. Das ist eine Riesenfreiheit, die da plötzlich entsteht, und ich glaube, das wird den Film sehr stark ändern … einfach besser machen. [6479]
Wie Filmemacher Philip Gröning es auch hinter die Kamera schaffte, können Sie hier lesen.