“Systemsprenger” von Nora Fingscheidt folgt dem pure Lebensenergie versprühenden Mädchen Benni (Helena Zengel), für das es in unserer Gesellschaft keinen Platz zu geben scheint. Auf der Berlinale 2019 wurde der Film mit dem silbernen Bären ausgezeichnet. Für unsere Ausgabe 11.2019 sprachen wir mit den Machern.
(Bild: Patrick Locher)
Die Wucht, mit der einen dieser Film mitreißt, ist ein kleines Wunder. Von den Herausforderungen der Dreharbeiten berichten uns Nora Fingscheidt (Drehbuch, Regie), Yunus Roy Imer (Kamera), Stephan Bechinger (Schnitt) und Jonas Weydemann (Produktion).
Nora Fingscheidt: Das Wichtigste war, von Anfang an klar zu kommunizieren, bitte lasst uns in möglichst viele Drehtage investieren. Das hatte dann natürlich zur Folge, dass wir ein sehr kleines Team waren, aber dafür hatten wir die Zeit mit Helena. Mir war immer klar, ich habe eine riesige Verantwortung diesem Mädchen gegenüber, deshalb brauchten wir Zeit.
Jonas Weydemann: Bei 67 Drehtagen kommt noch dazu, dass unsere Hauptfigur ein Kind ist, das so ungefähr an jedem Drehtag mit dabei sein musste, und vielleicht auch mal krank wird. Wir haben über den Winter gedreht, dafür brauchten wir natürlich Flexibilität. Dafür braucht man auch die Teammitglieder, die sich die Zeit nehmen.
Nora Fingscheidt: Es war wichtig für die Kleine, dass sie eine Familie um sich rum hat. Das ist ja dann die nächste Herausforderung, dass man nicht nur sagt, man mutet einem Kind zu, so eine Rolle zu spielen, sondern sie ist dann auch noch fünf Monate weg von ihrer Mama. Sie haben sich am Wochenende gesehen, aber auch nicht jedes. Wir waren maßgeblich für Helenas Wohl verantwortlich, und da war dann diese lange, lange Vorbereitungszeit wichtig.
Jonas Weydemann: Und es war uns eigentlich viel zu wenig Vorbereitung, muss ich zugeben, weil auch alle Departments
die lange Drehzeit durchhalten müssen. Man weiß zum Beispiel am Ende der Vorbereitung muss man so-und-so-viel Prozent Szenenbild fertig haben, und den Rest kann man dann parallel machen. Das kann man nur durch Enthusiasmus ausgleichen.
Yunus Roy Imer: Denen muss man auch ein Riesenkompliment machen, das Kernteam waren meistens nur vier bis fünf Leute, und sie haben mit sehr wenigen Mitteln wirklich unglaublich viel geleistet.
Jonas Weydemann: Alle Heads of Departments hatten eine große Offenheit, haben sich immer die Schwierigkeiten angehört. Gleichzeitig haben wir versucht, nicht nur Kompromisse machen zu müssen. Das zieht sich durch alle Gewerke bis in die Musik rein, dass wirklich schönes Kino erzählt werden will und wird. Auch von Dienstleisterseite war riesige Unterstützung da, zum Beispiel von ARRI Rental und Rotor-Film.
Yunus Roy Imer: Ich find’s sehr wichtig, Gewerke so früh wie möglich einzubinden, um Sachen zusammen anzuschauen,
und sagen zu können, hier, lasst mal schauen, wie wollen wir das machen? Ich finde das ist der Idealzustand. Zeit und Tests, das ist was ganz Besonderes und Effektives.
Nora Fingscheidt: Roy war auch bei extrem vielen Castings dabei, das ist mir ganz wichtig, weil er eine wahnsinnig gute menschliche Einschätzung hat.
Yunus Roy Imer: Bei den Proben und Konstellationen-Castings mit Helena habe ich mit meiner Sony Alpha7 und Fotoobjektiven gefilmt. So konnten sich Helena und ich aneinander gewöhnen, Vertrauen aufzubauen, aber auch choreographisch aufeinander einstimmen.
Jonas Weydemann: Helena war bei vielen Castings dabei, um die Chemie kennenzulernen, und auch davor noch, weil es Nora ganz wichtig war, dass die Kleine weiß, was auf sie zukommt.
Nora Fingscheidt: Unsere erste gemeinsame Arbeit mit Helena und Roy war, einen Spaziergang zu machen und die Kleine vor verschiedenen Farbhintergründen zu fotografieren. Wir wollten gucken, wie verhält sich dieses Gesicht, dieses weiße Haar, diese weiße Haut vor Braun, vor Weiß, vor Gelb, vor Rot – außerdem haben sich Roy und Helena so kennengelernt. Danach haben Roy und ich die Fotos ausgewertet und überlegt, wann wirkt das Kind zerbrechlich, wann wirkt sie aggressiv, was machen die Farben mit ihr.
Yunus Roy Imer: Von Rot wird sie quasi eingesaugt, verliert irgendwie Kraft, wenn sie eine türkise oder hellblaue Wand hinter sich hat, wird sie ein bisschen wie die Eisprinzessin, wenn sie pink und grün hat, dann kontrastiert sie sich so und so. Dem gesamten Farbkonzept liegt auch zugrunde, dass all diese Institutionen, diese sozialen Einrichtungen durch die sie geht, sehr schnell gewechselt werden. Es ist inhaltlich total wichtig, die Orte visuell voneinander unterscheiden zu können. Es gab einen tollen Moment, als wir dieses Mood-Bord bei Marie (-Luise Balzer, Szenenbild) im Büro hatten, mit allen Farben für die verschiedenen Locations. Da hat Nora ein neonpinkes Post-It genommen, und ist damit quasi alle Locations abgegangen. (lacht) Sie setzt sich überall von diesen Locations ab, sie ist da immer der Punkt, der dem Ganzen was gibt, der sich damit beißt.
Jonas Weydemann: Das Location-Scouting war zum Beispiel darauf ausgerichtet, weil wir uns teilweise nicht leisten konnten zu streichen oder Ähnliches.
Nora Fingscheidt: Ich kann mich da auch nicht beschweren, es ist wirklich gut gelaufen. Kreativ haben uns eigentlich alle freie Hand gelassen. Wir haben sogar – ich glaube acht Wochen vor Drehbeginn – in Berlin einen halben Tag einen Probedreh gemacht. Mit Roy hinter der Kamera, mit der Kamera-Crew, Helena und auch dem Tondepartment, damit sich alle schon mal erlebt und beschnuppert haben. Und auch für uns, um zu wissen, wie das Arbeiten mit der Kleinen sein wird.
Yunus Roy Imer: Wir haben uns neben 1.85 auch Cinemascope angeschaut, das hat dann zu einer Überästhetisierung geführt, was für dieses Thema aus unserer Perspektive falsch war. Gefilmt haben wir mit der AMIRA, weil man sie praktischerweise einfach unter den Arm klemmen konnte, um auf Helenas Augenhöhe zu sein. An so Tagen wo es kleiner und leichter sein musste, wie beim Schlittschuhlaufen, hatten wir die ALEXA Mini dabei. Es ging darum, dem Charakter frei und flexibel folgen zu können, in jedem Moment. Ich finde es auch angemessen von der Bewegung und der Dramatik her, die dadurch entsteht. In Situationen, wo es lange Gespräche gab, habe ich ein Easyrig zur Hilfe genommen. Ich fühle mich davon sehr schnell eingeschränkt, besonders wenn ich damit gehen muss. Ich mag’s auch, einfach die Kamera in den Händen zu halten, direkt reagieren zu können, runter, hoch, weg, rennen, liegen lassen. Ich mag das, nah an den Schauspielern dran zu sein, mit ihnen mitspielen zu können, ohne zu viel technischen Trennkörper. Bei den Objektiven hatten wir eine Mischung aus ZEISS Standard und ZEISS Highspeed auch für die Lowlight Situationen. In den Brennweiten 18, 25, 40, 65, 100 und 135, alles bei meist offener Blende, ohne Filter. Wir hatten noch Diopter dabei, für die Makro-Aufnahmen wo sie zum Beispiel in den Armen von Albrecht liegt. Das 40 mm ist eine sehr schöne Porträt-Optik, und 100 und 135 waren dann für die schnelleren, hektischen und teilweise auch bildlich abstrakten Sachen. Beim Probedreh sind wir von 18 bis 135 alles durchgegangen, haben Helena wirklich einmal vor jedes Objektiv gestellt, sind je einmal hinter, neben und vor ihr hergelaufen. Ich hab mir extra Turnschuhe gekauft, um ihr hinterher rennen zu können. Beim Dreh ist dann Albrecht einmal barfuß aus dem Haus gerannt, und ich bin ihm nicht hinterhergekommen. Da habe ich mich fast übergeben, mir war so schlecht von dem ganzen Rennen und Sprinten.
Nora Fingscheidt: Roy, Stephan und ich haben ein Wochenende zu dritt anhand des Drehbuchs ein visuelles Konzept festzulegen versucht. An welchen Stellen kann die Kamera autark werden und selber die Geschichte erzählen, zum Beispiel so wie sie bei der Echo-Szene rüber schwenkt, an welchen Stellen muss sie dokumentarisch sein, und wann wird es überhöht.
Yunus Roy Imer: Ich erinnere mich, dass wir da viel drüber gesprochen hatten. Bei einem Dialog fängt dann schon die autarke Entscheidung an, da rüber schwenken, weil der Satz zu Ende ist. Nora ist da sehr spielfreudig und möchte nicht vorher festlegen, wann man wie schwenkt. Als Camera Operator habe ich das Bedürfnis zu wissen, wann muss ich wo sein. Nach ein paar Takes hat sich dann meistens das richtige Schwenkverhalten eingestellt. Im Idealfall kann man es genau so verwenden, dreht aber auch noch Variationen. Das macht’s dem Schnitt aber überhaupt nicht einfach. Wenn jetzt in den Wald hinausgerufen wird, und man auf das Echo wartet, dann muss ich da raus schwenken. Das Bild, wo sie hinguckt ist so wichtig für diesen Moment, dort ist der dritte Gegenspieler. Das ist dann für mich ein autarker Schwenk, aber er fühlt sich ganz natürlich und motiviert an. Ich glaube, wichtig ist, dass man sich die Perspektive erklären kann. Wir sind das ganze Buch durchgegangen, haben einzelne Szenen betitelt, was der Kern dieser Szene ist, warum ist sie im Buch, warum ist diese Szene im Film, warum muss die erzählt werden. Das gab einem immer den Boden einer erzählerischen Haltung. Wir haben uns immer an die Proben angepasst, die wir meistens am Vortag gemacht haben: Verschiedene Einstellungsgrößen, Richtungen fotografiert, die Fotos zusammen angeschaut, ausgewertet, und uns dann für Richtungen entschieden, manchmal aber im letzten Moment doch noch mal aus der anderen Richtung gefilmt. Diese Flexibilität haben wir uns in den allermeisten Situationen bewahren können, dank der Unterstützung der technischen Departments, für die es echt eine große Herausforderung war. Wir lagen dann irgendwo zwischen vier und zehn Takes.
Nora Fingscheidt: Ich hatte noch keinen fiktionalen Langfilm gemacht und dachte so ach, bei den Kurzfilmen, da haben wir doch auch nie parallel zum Dreh geschnitten, das geht auch ohne. Ich warte, bis Stephan Zeit hat und wir sichten alles gemeinsam. Und dann standen wir an Tag 1 am Set und mir wurde klar, oh Gott, ich inszeniere jetzt gerade eine Szene, die kommt in Minute 45 des Films, ich hab überhaupt keine Ahnung, wie das davor und das danach aussieht, ich weiß nicht ob das passt. Da hab ich Stephan angerufen und gesagt, wir müssen parallel schneiden. Es tut mir total leid. Aber es stellte sich schnell heraus, dass die Belastung zu krass für ihn war.
Stephan Bechinger: Ich hatte ein anderes Projekt, deswegen hat sich alles ein bisschen verzögert. Julia Kovalenko hat dann den drehbegleitenden Schnitt übernommen. Vorher war noch Linda Bosch eingesprungen. Als ich parallel geschnitten hab, haben wir als Referenz für den Dreh die Erstbegegnung zwischen Micha und Benni genommen, gerade weil die ein bisschen schwierig war. Die wurde tatsächlich komplett vom Buch her geändert, und auch zweimal gedreht. Das andere war bei der Mutter zu Hause, weil das die erste Szene mit dem Stunt-Choreograph war.
Yunus Roy Imer: Wir haben so chronologisch wie möglich gedreht, aber auch um einen schönen Einstieg da rein zu haben, haben wir mit dem Land angefangen, auch für Helena und Albrecht, weil er die stärkste schauspielerische Bezugsfigur für sie war, privat, wie auch im Film. Das, was sie in der Rolle haben, hat sich auch auf das Private übertragen. Auch durch ihn hat sie, glaube ich, dem Team gegenüber Boden unter die Füße bekommen.
Jonas Weydemann: Helena ist ganz anders als Benni, sie ist aber auch ein sehr energetischer Mensch. Wenn wir Erwachsenen von so einer Szene, in der sie extrem rumschreit oder Ähnliches, alle total mitgenommen sind am Set, ist Helena dann wirklich auf Schnipp aus Benni rausgekommen und wie ein Flummi durchs Set gehüpft, hat sich gefreut und zack, kommt
sie wieder in die Rolle und war Benni.
Yunus Roy Imer: Beim Licht bin ich Fan davon, Tageszeiten und natürliche Sonnenrichtung einzukalkulieren. Wir haben viel mit Available Light gearbeitet, aber ohne die Kontrolle, die man technisch hätte herstellen können. Beim Licht waren zwei ARRI M18 die größten Einheiten, die wir dabei hatten, damit haben wir dem Licht von außen ein bisschen Richtung gegeben, und drinnen mit LED-Panels und -Röhren verlängert und gerichtet. Sehr klassische, rudimentäre Lichtmittel, um flexibel zu bleiben, und in alle Richtungen drehen zu können. Helena hat ja ein unglaublich helles Gesicht – die fängt auch jedes Licht. Wenn man nur drei Stunden effektiver Drehzeit mit einem Kind hat, dann schließt das einen größeren Locationwechsel aus, weil auch fast alle Szenen mit ihr zusammen sind, und alles inhaltliches, intensives Spiel. Es war nicht immer möglich, einen Licht-Tonkanal zu konstruieren, aber wir haben immer einen Weg gefunden. Das Tondepartment hat es ganz toll gemacht, hier und dort noch ein Mikrofon versteckt, und dann schnell sein. Einmal war das Jonathan Schorr, ab der zweiten Hälfte, weil die Tonmeisterin Corinna Zink aus privaten Gründen nicht mehr konnte. Wir hatten leider manchmal Licht von oben, das hat es dann dem Angler Martin Gerigk nicht immer leicht gemacht. Wenn man sich dann mal abspricht, wo die beste Position sein könnte, dann findet sich das ganz schnell, und dann entwickelt man schon nach wenigen Tagen ein Gefühl dafür.
Yunus Roy Imer: Ein sehr schönes Kameraerlebnis gab es bei einer Szene vom Nachdreh, wo sie nachts über die Straße läuft, Autos anschreit und dann mitgenommen wird. Da gibt’s eine Stelle, wo sie beim Fußgängersteig ist, sich bückt, irgendwas nimmt, schmeißt und hinrennt. Da hat sie so einen Hasenhaken geschlagen und unsere Körper waren einfach so synchron. Ich bin mitgerannt, hab rüber geschwenkt und es war im Kasten. Da hab ich dann auch selber so gemerkt: Oh, ok. Im Vergleich zu ihr hab ich natürlich immer ein leichtes Delay. [10323]
OFFENLEGUNG
Die Interviews wurden getrennt voneinander geführt.
IM NETZ
Homepage von DoP Yunus Roy Imer: www.yunusroyimer.com