Journalist Carl Gierstorfer dreht im Alleingang Charité-Dokureihe
Mit Covid allein
von Timo Landsiedel,
Im Frühjahr sendete der RBB die Dokureihe „Charité Intensiv: Station 43“. Eindringlich und unmittelbar zeigt darin der Dokumentarfilmer Carl Gierstorfer die Auswirkungen von Covid-19 auf den Klinikalltag. Gierstorfer fungierte dabei nicht nur als Realisator, sondern auch als Kameramann und Tonmeister. Er schilderte uns für das Heft 10.2021, was an den technischen Aspekten so herausfordernd war und warum all das dennoch in den Hintergrund trat, wenn er durch die Schleuse der Intensivstation ging.
„Das kann sich kein Mensch vorstellen, wie das läuft bei uns“, sagt Intensivmedizinerin Sarah Kamel in den ersten Minuten von Folge 1 der RBB-Serie „Charité Intensiv: Station 43“. Sie ist sie auf dem Weg zur Arbeit. Es ist Winter. Draußen ist es neblig, jenseits der Autobahn nach Berlin hinein kann man Felder erahnen. Sarah Kamel ist Ärztin auf der Intensivstation 43 der Berliner Charité, wo zurzeit der zweiten Welle im Winter 2020/2021 vor allem Covid-19- Patienten behandelt werden. Ihr Kollege Dang Pham sagt eine Viertelstunde weiter im Film, dass auf der Station in der ersten Welle kein einziger Patient starb. Jetzt in der zweiten sind es 80 Prozent.
Herantasten
Von Weihnachten 2020 bis März 2021 verbrachte der Dokumentarfilmer Carl Gierstorfer fast jeden Tag mit der Kamera auf der Intensivstation. Durch sein Werk zieht sich eine intensive Beschäftigung mit gesellschaftlich wichtigen Themen. Für „Ebola – Das Virus überleben“ war er 2015 zwei Monate in Liberia unterwegs. 2017 erhielt er für den 75-Minüter den Grimme-Preis. Um die Hintergründe der Verbreitung des HIV-Virus ging es 2014 in „AIDS – Erbe der Kolonialzeit“. Zusammen mit Sebastian Weis machte er zwei Dokumentationen über Nordkorea: Einerseits ging es um Zwangsarbeiter in „North Korea‘s Secret Slaves: Dollar Heroes“ und andererseits um die Staatsfinanzierung in „Office 39: Kim‘s Cash Machine“.
Die Beschäftigung mit biologischen Themen kommt nicht von ungefähr. Gierstorfer studierte ursprünglich am University College London Biologie. Von dort aus ging er zum ZDF nach München und arbeitete zwei Jahre lang in der Redaktion Naturwissenschaft und Technik. Seit dem Wechsel in die Hauptstadt ist er als freier Filmschaffender tätig. Hier in Berlin arbeitet er oft mit der Produktionsfirma Docdays zusammen. Produzentin und Docdays-Gründerin Antje Boehmert und Co-Autorin Mareike Müller hatten bereits im Sommer 2020 einen ersten Kontakt zur Charité hergestellt. Müller überzeugte Klinikleiter Professor Dr. Kai-Uwe Eckert von dem Projekt und sprach im Dezember Gierstorfer an, ob er die Doku realisieren wolle. Antje Boehmert gewann
in der Folge die Redakteurinnen Ute Beutler und Barbara Lohoff vom RBB für das Projekt. Zu diesem Zeitpunkt war nur klar, dass Docdays für die Mediathek eine Miniserie produzieren würde, zu vier Teilen à 30 Minuten.
Carl Gierstorfer stellte sich Oberarzt Dr. Daniel Zickler und seinem Stationsteam vor und machte im Anschluss eine Woche lang ein Praktikum auf der Station – ohne Kamera – um die Abläufe und Menschen auf der Station kennenzulernen. „Das war ein ganz transparentes Sich-Herantasten“, sagt Gierstorfer.
Maximal flexibel
Es folgte ein wichtiger Punkt für die Dreharbeiten: die Auswahl der Ausrüstung. Gierstorfer ging alleine auf die Station. Ein Team für Bild und Ton war nicht möglich. Dementsprechend wählte er sein Equipment aus, das leicht, wendig und allein bedienbar sein sollte und lange Drehtage durchhalten konnte. Seine Kamera war eine Sony Alpha 7s III. Beim Aufnahmeformat entschied man sich letztlich für Full HD, da ohnehin nicht in 4K ausgestrahlt würde und dieses Format enorme Datenmengen verursacht hätte. Als Objektiv kam ein Sigma 24-70 mm F2.8 zum Einsatz. Das war lichtstark genug und bot genügend Zoomfaktor, damit Gierstorfer in den engen Räumen nicht die Position verändern musste, um näher heranzukommen. Meist drehte er zwischen 35 und 60 mm, absichtlich um die Normalbrennweite herum. „Das hieß vor allem auch, dass ich physisch eine gewisse Distanz halten konnte, ich rückte den Menschen nicht auf die Pelle“, so der Filmemacher. Für die Nachtfahrten konnte er sich auf den lichtstarken Sensor der Sony Alpha verlassen. Gierstorfer versuchte dennoch, nicht unter einer Blende 4 zu bleiben: „Dann wird das manuelle Schärfeziehen sehr schwierig.“ Nur wenn er dem Klinikpersonal folgte, griff er auf den Autofokus zurück. „Das ist genial, man kann den Fokuspunkt definieren und das Ziel bleibt im Fokus“, so Gierstorfer. „Dann kann man seine Aufmerksamkeit jemandem anderen schenken. Ich habe beim Gehen Interviews geführt und konnte so mein Gegenüber anblicken.“ Zur Stabilisierung hatte er zusätzlich einen Monopod dabei.
Der Ton war eine besondere Herausforderung. Zum einen, weil die 7sIII mit XLR-Adapter nur insgesamt vier Kanäle zur Verfügung hatte. Kanal 1 und 2 davon waren XLR-Eingänge über den Hotshoe, zwei zusammengemischt über eine Mini-Klinke, den er mit einem Splitterkabel auf Kanal 3 und 4 teilte. Hierüber konnten die insgesamt drei mitgeführten Røde- Wireless GO andocken. Denn auch die Mikrofonierung musste sich der Situation anpassen. Nach der ersten Woche bat Produzentin Antje Boehmert Zeigermann_Audio aus Hamburg um Rat. Für die schnelle Aufzeichnung der Stimmen wählte man die Røde Wireless GO-Clips, die er schnell an den Kragen der Gesprächspartner heften konnte. Zudem kamen weitere Sennheiser Funkstrecken und ein Sennheiser-Richtmikro MKE 400 auf der Sony-Kamera zum Einsatz. Zudem hatte Gierstorfer drei Tentacle Track-E Rekorder mit dabei. Diese kombinierte er entweder mit einem gerichteten DPA 4097 oder mit einem Ansteckmikro. Der Track-E konnte über lange Strecken einfach mitlaufen und der Akku hielt durch. „Ich brauchte eine Technik, die mir die maximale Flexibilität gibt und minimal invasiv ist“, sagt Gierstorfer. „Dieses Set-up war perfekt, denn es hat mir maximal erlaubt zu kommunizieren!“
Aus dem Bauch heraus
Kurz vor Weihnachten 2020 trat Carl Gierstorfer das erste Mal mit Kamera und Tonausrüstung durch die Schleuse auf die Station 43. „Ich habe die meiste Zeit damit verbracht, mit den Leuten zu sprechen, zuzuhören, zu erklären, was ich mache, herauszufinden, was möglich ist, was auch vielleicht nicht erwünscht ist“, erklärt Gierstorfer. „Es war ein ständiges Neu-Erfassen der Situation – auch emotional – in die Situation einzutauchen und sich immer wieder fragen, ist es okay, wenn ich jetzt drehe?“
Nach den ersten Drehtagen machte der Filmemacher in Telefonkonferenzen der Redaktion klar, dass dies harte Kost werden würde. „Dass die erste Folge den Titel ,Sterben‘ hat, war nicht der Tatsache geschuldet, dass wir möglichst reißerisch sein wollten, sondern weil es einfach so war!“ Beim Drehen gab es für ihn eine klare, moralische Regel. „Ich habe nur gedreht, wenn ich vorher das Einverständnis hatte“, betont der Dokumentarfilmer. „Aber ich habe auch viel nicht gedreht, weil ich in Sekundenbruchteilen aus dem Bauch heraus entschieden habe: Nein, ich kann das jetzt nicht drehen. Das geht zu weit, oder da wird eine Grenze überschritten.“
Die Hygienevorschriften auf der Intensivstation waren herausfordernd. Gierstorfer gewöhnte sich schnell daran, jeden Morgen die gesamte Kleidung am Eingang zurück zu lassen und sich komplett in Schutzkleidung zu werfen. Das Equipment musste während des Drehs selbstverständlich dauernd desinfiziert werden. Durch das ständige An- und Ausziehen der Schutzkleidung vor und nach Betreten der Patientenzimmer war die Mikrofonierung nicht leicht. Mehr als einmal lief Gierstorfer hier über die Gänge und suchte in den Mülleimern, in denen die Einweg-Schürzen entsorgt wurden, nach seinen Clip-Mikros.
Nächtliche Materialsichtung
Am Ende des viel zu oft viel zu langen Tages verließ Gierstorfer die Station, ließ Kittel und OP-Kleidung zurück und stieg wieder in seine Straßenkleidung. Dann stieg er ins Auto und schickte seiner Co-Autorin Mareike Müller eine lange Sprachnachricht mit den Geschehnissen des Tages. Müller protokollierte die Informationen und leitete sie an Editor Ronald Rist weiter, der für den parallelen Rohschnitt verantwortlich war. „Das, was nach so einem Tag hängen bleibt im Hirn, ist vermutlich wichtig und daher eine gute Anleitung, um das Material anzugehen“, sagt Carl Gierstorfer. Nach den ersten Schnittfassungen merkten Gierstorfer und die Redaktion, dass die Folgen zu viel erzählten. Rist reduzierte daraufhin die Erzählung auf die zentralen Geschichten, die eine fundamentale Aussage hatten, wie „Abschied“, „Trauer“ oder „Hoffnung“. „Das hat Ronald komplett eigenständig gemacht mit einem unglaublichen Gespür“, sagt Carl Gierstorfer. Nach dem Briefing per Sprachnachricht fuhr der Dokumentarfilmer heim, kopierte die SD-Karten der Sony Alpha S7 III auf drei Festplatten, die dann abgeholt und in den Schnitt gebracht wurden. „Ich habe mir dann abends oder nachts immer noch mal das Material angeschaut, was ich am Tag gedreht habe“, erinnert sich Gierstorfer. Dann ging er ins Bett. [14815]