Wie entstanden Schnitt und Dramaturgie von "Systemsprenger"?
Schauen, was zusammen geht
von Jens Prausnitz,
In der Fortführung des Produktionsberichts aus unserem Heft 11.2019 gibt uns das Team hinter “Systemsprenger” hier Einblicke in die dramaturgischen Hürden von der ersten Idee bis hin zum Final Cut. Editor Stephan Bechinger erläutert, wie stark er dramaturgisch einbezogen war und wie er sich dem Material angenähert hat.
Nora Fingscheidt: Julia Kovalenko hat das Material so humorvoll geschnitten, dass ich dachte, dass ist ja ein ganz anderer Blick. Stephan hat das auch immer gesehen und dann habe ich die Produktion gebeten, dass sie ihren komplett eigenen Film einmal schneidet. Weil was uns, glaube ich, fehlt, ist das Talent zur Leichtigkeit. Wir sind beide eher schwere, melancholische Filmemacher. Als sie dann fertig war, hatte sie so ein 200-minütiges Monstrum geschnitten und es war total interessant. Nichtsdestotrotz haben Stephan und ich aber bei Null angefangen, alles gemeinsam zu sichten.
Stephan Bechinger: Das hat mit dem Material zu tun, wie das gedreht war. Das war nicht so, wir tauschen hier und da einen Take aus, sondern man musste schon immer schauen, was wirklich zusammen geht. Also Anschlüsse, Spielenergie und Inszenierung. Der Rohschnitt war mega-gut und hilfreich für die Gesamtdramaturgie und Gewichtung, oder für Dinge, die man vielleicht nicht so mag, wo man Figuren eine andere Note geben will. Deshalb sind wir immer wieder da reingegangen und haben uns Momente rausgesucht, die wir übersehen hatten.
Nora Fingscheidt: Es gibt Szenen und Szenenumstellungen, die haben wir übernommen, weil sie so schön waren und wir nie selbst drauf gekommen wären: Die Zahnputz-Szene zum Beispiel. Da haben wir am Ende drei Schnitte geändert, oder beim Ende der ersten Hilfeplankonferenz hat Julia ein paar Dialoge umgestellt.
Stephan Bechinger: Ich habe dann Anfang Mai 2018 angefangen mit der Ausrastszene im Hof. Da war Helena mir zu sehr Opfer und zu wenig Aggressor. Und mit dem Gespräch danach war ich irgendwie nicht glücklich, mit der Figurenetablierung. Nicht weil es schlecht geschnitten war, da habe ich mir persönlich etwas anderes von Benni erhofft. Deswegen war mir das relativ wichtig. Das Reinkommen ist für mich beim Schnitt immer das Schwierigste, da bin ich immer noch sehr unsicher.
Dann sind wir chronologisch vorgegangen. Ich habe mir am AVID Sammlungstimelines von allen Szenen gemacht. Immer alles was wir gut fanden haben wir reingehauen, dann chronologisch sortiert und immer weiter eingedampft. Am ersten Teil, vor der Natur, haben wir ziemlich lange geschnitten. Danach sind wir viel schneller drüber, um zum Ende zu kommen, das war relativ wichtig. Es gab natürlich noch reichlich Probleme, aber die erste Fassung, die so 2 Stunden 40 lang war, die war erstmal sehr vielversprechend. Beim Runterkürzen ging wieder einiges verloren. Es ist schon immer wieder ein Herantasten gewesen, von Szene zu Szene. Bei dem Film ist es natürlich so, dass es auch ein gewisses Maß an Redundanz und Überforderung braucht.
Eine schwierige Szene war die Erstbegegnung von Benni und Micha, die ich schon erwähnt habe – da ging’s tatsächlich um ihn, seine Figur, dass er uns ein bisschen zu weich war im Material. Er war im Zimmer ein bisschen zu freundlich und feinfühlig. Diese Blickwechsel sind aus sehr vielen Takes zusammengesucht und müssen trotzdem die eine Stimmung halten, ohne dass es zu sehr springt.
Nora Fingscheidt: Oder die Szene nachdem Micha Benni beim Bauern gefunden hat, das war eine sehr schwierige Szene. Wir haben da viele, viele Takes gedreht und haben das dann so gefunden, dass Micha nicht weiterspricht. Es gibt eigentlich so einen Moment, wo sie in diese Pause noch “Tut mir leid” sagt, Benni entschuldigt sich bei ihm. Das haben wir aber wieder rausgeschnitten und es hat den Moment noch viel stärker gemacht.
Stephan Bechinger: Meine Lieblingsszene ist wahrscheinlich der Abschied auf dem Feld, weil die zusätzlich zum Emotionalen noch eine Seltsamkeit hat. Das mit dem leise gesprochenen “Bleib stehe”“ war schon so ähnlich geplant, ich weiß nicht mehr ob es so war, dass sie direkt darauf reagiert. Also ich glaube wir haben es schon ein bisschen übertrieben im Schnitt, als Überhöhung, aber das mochten wir irgendwie direkt.
Jonas Weydemann: Ende Oktober 2018 haben wir dann die erste gemeinsame Sichtung gemacht, und da hatten wir schon einen Film in der Größenordnung von zweieinhalb Stunden. Nora und Stephan waren sehr gut darin, Leute konkret zu befragen, sich davon ihre Scheibe abzuschneiden und dann wieder eigene Entscheidungen zu treffen. Natürlich haben sie auch den Final Cut, das ist bei den meisten Debutfilmen so, die wir machen. In künstlerischen Entscheidungen sind wir nah dran, aber beratend. Wann hat man sonst die Chance zu zeigen, wie man es haben möchte? Wir haben diskutiert, was den Film besser macht. Wir haben uns rangetastet – zwischenzeitlich waren wir im Schnitt mal auf eine Stunde 50 runter, das hat aber nicht so gut funktioniert und am Ende wurde es eine Punktlandung. Es gab keinen von unseren Partnern in der Auswertung, die gesagt haben, “ihr müsst”.
Stephan Bechinger: Wir haben auch ein paar Szenen in ihrer Chronologie umgestellt. Was mir spontan einfällt: das Telefonat mit der Mutter, wo sie ihr das Lied singt – das war eigentlich erst nach der Begegnung mit der Mutter, das haben wir dann vorangestellt. An den ursprünglichen Platz kamen dann die Szenen, wo man sie ein bisschen allein sieht, das sind eigentlich Sachen, die noch aus der Anfangsmontage waren, weil wir das Gefühl hatten, es ist wichtig, nochmal einen Moment mit ihr allein zu haben, auch um sie mal anschauen zu können, nicht immer in Aktion und Reaktion. Die Eröffnungsszene bei der Ärztin ist auch von woanders, weil wir Probleme mit dem Reinkommen in den Film hatten. Die Szene war eigentlich nachdem Benni das zweite Wohnheim besucht, wo sich die ganzen Kinder vorstellen. Wir mochten die Szene für ihre Körperlichkeit, für die Figur, um mal einen ruhigeren Anfang zu haben und um erstmal sowas wie ein Gespür für Benni zu kriegen. Eigentlich fing der Film mit so einer Art Traumsequenz an, die dann überging in diese Schulhofszene, wo sie ausrastet, also auf einem ziemlich hohen Energielevel. Die Traumsequenzen sind mir wirklich sehr schwer gefallen, vor allem die Erste. Also ich hatte das Gefühl, wenn das etabliert ist, dann gehen auch die anderen, zum Beispiel nachdem sie bei der Mutter war, wo es ja sowas Ähnliches in ruhiger ist. Das fiel mir deutlich leichter. In der Natur, beim Lagerfeuer ist es nochmal eine andere Stilistik, aber ganz am Anfang, da war ich irgendwie ganz lange unglücklich damit. Es war wirklich schwierig, dass man an Benni andockt – sie ist ja schon eine sperrige Figur, kein klassischer Symphathieträger und da hilft die ruhigere Szene etwas.
Stephan Bechinger: In der Natur haben wir noch einiges umgestellt, aber auch weil da ein bisschen was rausgeflogen ist, zum Beispiel die Abfahrt und dann noch eine Begegnung mit dem Bauern beziehungsweise seinem Hund. Und eigentlich war das “Echo” auch früher geplant, bevor sie abhaut. Das haben wir dann ans Ende dieses Blocks gelegt, weil wir quasi mit dieser Emotion wieder zurück wollten. Das war aber eine Szene, die diskutiert wurde, ob es dieses „Mama hasst mich“ noch geben soll, oder ob das zu ausgesprochen ist. Ich mag das irgendwie, aber ich kann auch die gegenteilige Meinung verstehen.
Jonas Weydemann: Bis vor den Picture Lock saßen sie noch an der Echo-Szene dran! Mir gefällt unglaublich gut, dass jede Szene anders geschnitten ist. Jede steht für sich, variiert auch, probiert Sachen aus, verändert den Stil, den Rhythmus – ich find den wirklich super toll geschnitten.
Stephan Bechinger: Jetzt bei “Systemsprenger” saßen wir viel mehr zusammen als bei „Ohne diese Welt“. Nora lässt mich alleine schneiden, aber sie ist halt trotzdem jemand, der wirklich gerne über jede Kleinigkeit diskutiert. Das heißt aber nicht, dass sie unbedingt beim faktischen Schneiden daneben sitzen muss. Wir stellen sehr viel immer wieder in Frage.
Nora Fingscheidt: Wir sind als Gesellschaft in 25 Jahren auch weit gekommen. Wenn man sich anguckt wie Kinderpsychiatrien in den 70ern ausgesehen haben: Die wurden mit Zwangsjacken in weiße Räume gesperrt. Gleichzeitig ist es auch spannend den Film mit Leuten aus anderen Ländern zu schauen, die sagen es sei ja verrückt, was ich Deutschland alles für so ein Kind getan wird! Selbst wenn es hilflose Versuche sind, in einem anderen Land würde das durch ein Heim gehen, durch’s zweite rasseln und dann auf der Straße landen. Aber ich glaub ich werde nie wieder so naiv ein Drehbuch schreiben können, wo dann so was steht wie “schließt sich mit dem schreienden Baby im Bad ein”. [10325]
OFFENLEGUNG
Die Interviews wurden getrennt voneinander geführt.