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Autor Arndt Ginzel und sein Editing-Team über ihre Ukraine-Doku

Point of View

Im Oktober 2023 hatte die Ukraine-Doku „White Angel – Das Ende von Marinka“ Premiere auf dem DOK Leipzig. Das Herz des Films bilden die Aufnahmen einer Bodycam des Polizisten Vasyl Pipa, der mit Kollegen durch den Frontlinien-Ort Marinka fuhr und Menschen evakuierte. Autor Arndt Ginzel und das Editing-Team Annina Wolf, Stefan Eggers und Guntram Schuschke erzählten für unser Heft 12.2023, wie sie die 40 Stunden Material in rund 100 Minuten Film strukturierten und wie sie mit den teilweise grausamen Bildern des Krieges zurechtkamen.

Zwei Ukrainische Soldaten in einem Fahrzeug
Foto: GKD­-Journalisten / ZDF

Inhaltswarnung

„White Angel – Das Ende von Marinka“ enthält Dar­stellungen von Kriegsszenen und Tod. In diesem Artikel werden diese Themen behandelt.
Dies kann eine (re­-)traumatisierende Wirkung haben.


Der Polizeichef von Marinka sieht nicht aus, wie man sich einen Polizeichef vorstellt. Vasyl Pipa ist ein hagerer Mitt­dreißiger mit wachen Augen. Er sitzt auf dem Beifahrer­ sitz des ehemaligen Krankenwagens und singt lautstark in seine Handykamera. Neben ihm singt sein Kollege Rustam Lukumsky laut mit, ein Bär von einem Mann. Schnitt. Pipa öffnet eine Kellertür. Er fordert laut und mit deutlichen Wor­ ten die Hausbewohner auf, mit ihm zu kommen. Der Licht­kegel seiner Taschenlampe huscht über Betten, Habseligkeiten und verängstigte Gesichter. Alle sind in Lebensgefahr. Keine anderthalb Kilometer von hier verläuft die Frontlinie. Der Artilleriebeschuss ist während der ganzen Zeit zu hören.

40 Stunden Bodycam

Im Februar 2022, während des völkerrechtswidrigen An­griffs Russlands gegen die Ukraine, war Arndt Ginzel im­mer wieder in der Ostukraine unterwegs. Ein Jahr nach dem Überfall wollte der Leipziger Journalist erneut dorthin fah­ren, um sich ein aktuelles Bild von der Situation zu machen. Kein einfaches Vorhaben, denn im Februar 2023 verlief hier die Frontlinie. Ginzel ist jedoch erfahrener Kriegsbericht­erstatter und fuhr also mit seinem langjährigen Kamera­mann Gerald Gerber in den Oblast Donezk.

Hier lag unweit der gleichnamigen Regional­hauptstadt der Ort Marinka. „Es war klar: Marinka als Stadt existiert nicht mehr“, so Arndt Ginzel. Doch ohne Begleitschutz kommt dort niemand hinein. Ginzel fand schließlich in Kurachowa eine kleine Gruppe von Evakuierungshelfern, die „White Angel“ genannt wurden und mit einem ehemaligen Krankenwagen Menschen aus den Dörfern evakuierten. Leiter der Truppe war Vasyl Pipa. Nach einem Drehtag zeigte Vasyl Pipa Ginzel einen Clip aus seiner Bodycam. Er hatte fast alle Evakuierungseinsätze in 2022 mitgefilmt, um die Verbrechen Russlands zu dokumentie­ren. Schließlich gab er Ginzel die gesamte Festplatte mit 40 Stunden Material mit.

Das Team von „White Angel – Das Ende von Marinka“ (v.l.): das Editing- Team aus Annina Wolf, Stefan Eggers, Guntram Schuschke sowie Autor und Regisseur Arndt Ginzel
Das Team von „White Angel – Das Ende von Marinka“ (v.l.): das Editing- Team aus Annina Wolf, Stefan Eggers, Guntram Schuschke sowie Autor und Regisseur Arndt Ginzel (Foto: Nicole Schuschke)

Zurück in Leipzig begann Ginzel zu sichten und die Inhalte in einer Tabelle zu dokumentieren. Der Zeitraum der Aufnah­men umfasste knapp ein Jahr, von März 2022 bis Februar 2023. Neben Fahrten nach Marinka wurden auch Fahrten in die umliegenden Dörfer dokumentiert. „Mir war nicht so­ fort klar, was daraus wird“, sagt Arndt Ginzel. „Das Thema ,Marinka‘ war dann eine Entscheidung aus dramaturgischen Gründen. In Marinka hatte ich ein dramaturgisches Ende, nämlich das Ende der Stadt.“ Die Kraft der Bilder ist ein­zigartig. Die Geschichte des Ortes lässt sich dokumentieren. Ginzel machte sich auf die Suche nach einer Kooperation. Der Journalist stellte zusammen mit Editor Stefan Eggers einen ersten Trailer zusammen und meldete sich im Haupt­ stadtstudio des ZDF an. Hier sitzt die Redaktion von Frontal. Der stellvertretende Redaktionsleiter Christian Rohde und Moderatorin Ilka Brecht sahen den Trailer und sagten so­ fort ihre Unterstützung zu. Sie folgten dem Vorschlag, einen 90­-Minüter fürs Kino herzustellen: eine erstaunliche Zusage von einer TV­Magazinredaktion und ein Beweis in das Ver­trauen in Ginzel und sein Team.

Die Menschen in den Clips sind in teilweise sehr hilflosen Situationen zu sehen, überfordert mit der Situation, sich für das Publikum zunächst nicht nachvollziehbar verhaltend. „Meine Überlegung war, den Menschen auch ein Stück ihrer Geschichte zurückzugeben, ihnen die Deutungshoheit über ihre Geschichte verleihen“, sagt Arndt Ginzel. Man­ ches ist aus den Bildern selbst nicht verständlich, bedarf einer Einordnung. Also plante Ginzel schon früh, erneut in die Ostukraine nahe Marinka zu fahren und dort mit den Menschen, die er ausfindig machen konnte, noch mal über die Situationen und ihr Leben zu sprechen.

Interviews an der Front

Im Mai 2023 packten Kameramann Gerald Gerber und Gin­ zel ein kleines Besteck an Licht und Kameratechnik ein und fuhren erneut in die Region. Hier mieteten sie sich in einem kleinen Hotel in der Nähe der Hauptstadt ein und richteten sich ein kleines Studio für die Interviews her. Sie sprachen mit vielen der Überlebenden aus dem Film, die ihre Situa­tion aus den Clips erläuterten. Besonders positiv überrascht war Ginzel von Vasyl Pipa. Tatsächlich trägt jetzt im fertigen Schnitt auch in den Off­-Camera­-Momenten die Erzählung Pipas emotional weite Teile des Films.

Dann ging es in die zweite Runde der Sichtung für den Schnitt. Zusammen mit Editorin Annina Wolf wählte Ginzel Personen und Handlungsbögen aus, um die Geschichte Ma­rinkas zu erzählen. Dafür kamen von den 40 Stunden im­merhin 10 Stunden Material mit Bezug zu der ausgelösch­ten Stadt in Frage. Dazu musste Wolf zunächst viel Material übersetzen und als Transkript schriftlich niederlegen, damit die ihr nachfolgenden Kollegen arbeiten konnten. Außer­dem musste das ausgewählte, aber ungeschnittene Mate­rial übersetzt werden. Zwar haben Ginzel und Editor Gun­tram Schuschke grundlegende Russischkenntnisse, die aber weit entfernt von einem flüssigen Verstehen beim Sichten der Clips waren. Tatsächlich ist – oder war – Russisch und nicht etwa Ukrainisch in der Ostukraine und in Marinka die im Alltag vorherrschende Sprache.

Bodycam-Einstellung von einer Evakuierung in der Ost-Ukraine
Die subjektive Einstellung der Bodycam ist allgegenwärtig und extrem immersiv. (Foto: GKD­-Journalisten / ZDF)

Wolf brachte im Anschluss dann eine erste Struktur in das Material. Die von ihr montierten rund dreieinhalb Stunden übernahm dann Guntram Schuschke. Er arbeitete den ers­ten Feinschnitt heraus und kürzte auf etwas unter zwei Stunden. Dann folgte Stefan Eggers, der noch einmal Vie­les anfasste und auf 103 Minuten kürzte. Das Material lag in unterschiedlichen Framerates vor, da Vasyl Pipa auch mit Smartphone und unterschiedlichen Actionkameras ge­dreht hatte. In der Farbkorrektur verbrachte Colorist Martin Schröder wochenlang seine Nächte damit, die Artefakte zu entfernen. Tom Chapman bearbeitete in der Postproduktion den Ton nach und holte aus den Szenen, die ja über interne Tonaufzeichnung der Actionkameras aufgenommen wur­den, noch einiges heraus.

Montageprozess

Wichtig war für Ginzel und sein Team, dass die Tagesabläufe nicht mit Schnittmaterial anderer Tage unterfüttert wurden. Was zu sehen ist, ist auch an dem Tag zu der Zeit gedreht worden. „Wenn die Bilder nicht nur eine Symbolik darstel­len, sondern einen Zeitablauf dokumentieren, dann müssen die Bilder stimmen“, sagt Arndt Ginzel. Einzige Ausnahmen von dieser Vorgabe waren der Anfang mit der Montage­sequenz und die eingestreuten Aufnahmen von Pipa und seiner Familie.

Vor allem zu Beginn des Schnitts war viel von dem sehr be­lastenden Material zu sichten und zu schneiden. Für Annina Wolf und Arndt Ginzel war das ein schwerer Abschnitt. „Wir sind da teilweise ewig um bestimmte Szenen rumgekreist, weil wir die nicht schneiden wollten“, erinnert sich Ginzel. „Das war einer der Spätsommertage, als Vasyl vier Tote an einem Tag hatte. Das war schon echt belastend.“ Annina Wolf fügt hinzu: „Ich habe in der Zeit auch täglich mit Gun­tram und Stefan besprochen: Was sollen wir zeigen und was nicht.“ Zentral war hier der Leitsatz, die Menschenwürde müsse gewahrt sein, zum Beispiel die Nacktheit eines Toten nicht zu zeigen oder auch eine frontale Einstellung auf den Toten, die beim Einsatz einer ungeführten Bodycam unge­plant entsteht, wegzulassen. Das Editing­-Team deutete eher an, wie beim Zeigen des Freilegens einer Hand unter Schutt. [15395]

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